»Dies ist mein Schicksal, das weiß ich genau. Egal, wie schwer diese Erkenntnis auch sein mag, so ändert der Schmerz nichts an der Tatsache, dass ich sterben muss.«
Hoffnung geht auf Reisen
Die Gegenwart.
Die blauen Welten von Adeli spiegelten sich in den blauen Augen des jungen Elphid wider. Ein ruhiger, bläulicher Nebel, der sich auf die gesamte Landschaft wie eine Decke legte, wurde auch an diesem Tag vor Aufregung aufgewirbelt. Ein chaotischer Sturm, der den Namen Elphid trägt, rannte wie gewöhnlich nach dem Aufstehen durch den dichten und noch schlafenden Skadoswald. Seine rechte Hand hielt das Holzschwert, was durch die Luft peitschte und einen Ast nach dem anderen zerschlug. Die andere Hand zeigte zielgerichtet den Weg. Die meeresblauen Blätter regneten auf ihn herab, als er das pure Böse, in Form seiner Gegner zu Fall brachte. Hinter jeder Ecke versteckte sich heimtückisch das Unglück. Jeder Busch war eine Falle. Ein Feind nach dem anderen fiel… »durch die mächtige Hand des Helden Elphid!«, rief der Junge stolz und laut, dass sogar die Vögel aufschreckten.
Wer seine Gegner waren? Nun ja, das war ein anderes Thema. Seine Feinde waren imaginäre Wachen aus einer anderen Welt. Sie hatten lange Kampfstäbe, einen schweren Mantel, ihr Kopf bestand nur noch aus einer Maske. Eine Maske, die Elphid unbekannt war. Sie war dunkel, gezeichnet mit Strichen und Mustern, die er nicht verstand. Elphid wusste nicht, was genau sie waren. Manchmal erschienen sie in seinen Träumen. In den Nächten, in denen er nie gut schlafen konnte. Dort erschien diese eine Wache, die immer böse und grausam war. Angsteinflößend, mit einer schaurigen Aura. Doch eine andere dieser maskierten Gestalten, wirkte immer sehr nett auf ihn. Liebevoll und sorgend, aber auch eine neckische Art und Weise.
Warum war die eine Wache gut? Wieso war die andere von ihnen so böse? Wieso tauchten sie überhaupt so oft in seinen Träumen auf? Die Antworten auf diese Fragen kannte Elphid nicht, aber diese Gestalten machten wunderbare imaginäre Feinde. Wen sollte er sich auch sonst vorstellen? Die Wachen aus seinem Dorf? Das wäre ja Unsinn. Sie beschützten die Einwohner und hielten Ordnung. Zwar waren sie oft verärgert wegen des Chaos, dass Elphid manchmal verursachte, aber deshalb musste man ihnen ja nicht gleich den Kopf abschlagen. Also wirbelte er, in seiner Vorstellung zumindest, elegant und flink weiter durch seine Gegner hindurch!
Auch wenn Elphid sich wünschte, dass er so gekonnt und majestätisch durch seine Feinde wehte und jeden mit nur einem Schlag besiegte, so sah die Realität ein wenig anders aus. Er besaß nicht die Jahrzehnte an Erfahrung, sondern war in Wirklichkeit mit seinen 17 Jahren eher ungeschickt, um es nett auszudrücken. Hin und wieder fiel er zu Boden, weil er über eine Wurzel stolperte. Manchmal, Elphid schwor, sie machten es mit Absicht, peitschte einer der Äste wieder zurück und gab ihm eine Backpfeife.
All das soll nicht bedeuten, dass es dort kein Funken an Hoffnung gäbe, was seine Fähigkeiten anging. Elphid war durchaus flink, schneller als jede der Wachen im Dorf. Außerdem war es bemerkenswert, wie lange er durch den Wald rennen konnte, ohne dass ihm die Luft ausging. Doch dies änderte nichts an der scheinbaren Unzerstörbarkeit der Natur, wenn erneut ein Ast nicht brach, sondern ihm direkt in sein Gesicht flog.
»Hätte ich nur ein echtes Schwert, dann würde das nicht passieren!«, sagte er zu sich selbst, rieb sich seine Wange und steckte das Holzschwert wieder in die Schlaufe an seinem Gürtel. Der blaue Nebel legte sich wieder um Elphid herum. Ein ruhiger Wind wehte durch sein etwas längeres dunkelblondes, aber vor allem chaotisches Haar. Mit seinen großen, tiefblauen Augen, schaute er hoch in den einzigartigen Himmel von Adeli.
Wieso einzigartig? Nun ja… Über Elphid sah der Himmel so aus, als ob ihn jemand mit dem Meer vertauscht hatte. So zumindest erklärte Iglias ihm das immer wieder, doch das machte wenig Sinn für Elphid. Sein Leben lang rauschte der Meereshimmel weit über ihm, die Wolken schwammen in den Wellen. Warum sollte das Meer auf dem Boden sein?, fragte er sich dann immer. Doch die Antwort, so hoffte er, würde er bald finden.
»Morgen ist es endlich so weit!«, sagte er in Richtung des Himmels. »Morgen werde ich endlich aufbrechen und ein echter Kämpfer werden!« Es war das Ziel, was Elphid schon sein Leben lang verfolgte. Ja, er fühlte sich hier in Adeli wohl und heimisch, doch eine Erinnerung an eine Person brachte Elphid dazu, dass er sich nach den Welten da draußen und dem Abenteuer sieht.
Die Erinnerung an seine Schwester.
Doch das war alles, was ihm blieb. Die Erinnerung, dass er eine Schwester hatte. Er kannte ihren Namen nicht mehr, hörte ihre Stimme nicht in seinem Kopf und hatte kein Gesicht vor Augen. Wenn er nun aber endlich die Welten erkunden könnte, dann würde er all das sicherlich wiederfinden. Da war er sich sicher! Etwas in ihm bestätigte diese Hoffnung ganz fest.
Elphid richtete seinen Blick in Richtung des Dorfes. Ein klein wenig Rauch stieg hinter den Bäumen hinauf. Dort stand die Schmiede, sein nächstes Ziel.
Vorher werde ich mir aber endlich erst ein richtiges Schwert machen, dachte er und rannte wieder los. Der Nebel, der gerade erst wieder zur Ruhe gefunden hatte, wurde so schnell wieder von dem aufgeregten Jungen aufgewirbelt.
*
Rhythmisches Schlagen des Schmiedehammers auf ein Stück erhitztes Stahl klang durch die gesamte Schmiede, und übertönte das Rascheln im Busch direkt vor dem Fenster. Der Dorfschmied, ein älterer, oft schlecht gelaunter Mann, mit vereinzelten grauen Haaren auf dem Kopf, mehr nicht, aber einem gepflegten Schnauzbart, ging seinem täglichen Geschäft nach. Er schmiedete ein Schwert für die Dorfwachen, die wahrscheinlich neue Waffen für ihr Training brauchten. Jeder Schlag war präzise, geplant und ohne Fehler. Die vielen Jahrzehnte an Erfahrungen steckten in jedem seiner geschmiedeten Kunststücke, Waffen und Rüstungen. So behauptete der Alte das zumindest immer. Elphid war immer der Meinung, dass das ja nicht so schwer sein konnte. Doch nach ein paar letzten Schliffen war das Werk vollbracht.
»Ja ha!«, rief der Schmied auf. »Ein weiteres Meisterwerk!«.
Dann mach schnell und bring die Waffen weg, alter Mann, dachte sich Elphid und wand sich unangenehm in dem Busch. Irgendwas pickst mich hier drinnen an einer ganz unangenehmen Stelle!
Der Schmied griff das Schwert und steckte es in die Tasche zu den anderen. So viele Waffen brauchte die Dorfwache eigentlich nie, denn sie bestand nur aus ein paar dutzend Männern und viel passierte in Adeli auch nicht. Manchmal glaubte Elphid, dass der alte Schmied nur Waffen schmiedete, weil ihm langweilig war und nicht weil die Waffen benötigt wurden.
Der Alte nahm die Tasche mit den Schwertern und verließ endlich die Schmiede. Es war still. Das Feuer der Schmiede loderte noch und das Knacken des Holzes, welches das Feuer am Leben hielte, war das Einzige, was man hörte. Zumindest so lange, bis sich das Knacken der Äste im Busch mit dem Feuerholz kombinierte und die Ruhe erneut von Elphid gestört wurde. Er sprang aus dem Busch und kletterte durch das offene Fenster hindurch. In der Schmiede zog er seine Kapuze ab und wischte sich seine chaotischen Haare aus dem Gesicht. Schnell durchsuchte er die gesamte Schmiede und wurde fündig: ein Stück Stahl und ein Schwertgriff. Der Alte hat auch noch unnötig viele Sachen auf Vorrat!
Iglias, der Dorfoberste, Anführer der Dorfwache und vor allem derjenige, der Elphid großgezogen hatte, verweigerte dem Jungen immer ein echtes Schwert. Nie hatte Elphid verstanden, warum er das tat. Schon immer wollte Elphid nach draußen aufbrechen und reisen. Immer wieder warnte Iglias ihn, dass die Welten gefährlich wären. Warum sollte er also kein echtes Schwert haben? Vor allem, wenn immer klar war, dass er eines Tages eine Wache werden würde. Wahrscheinlich wollte Iglias nur nicht, dass Elphid ihn verlässt.
Ich kann aber nicht ewig in diesem Dorf hocken!, dachte sich Elphid und beobachtete wie der Stahl erhitzte. Er musste raus in die Welten. Alleine wegen dieser Tatsache. Immer sprachen alle von Welten! So als ob es da draußen noch so viele andere Städte, Länder, Leute und Landschaften gäbe, weit weg von diesem Ort. Nie hatte Elphid die Chance dazu bekommen, eine von diesen zu entdecken, auch wenn es das war, was er wollte. Zu Reisen und Abenteuer zu erleben, während er sich auf die Suche nach seiner verlorenen Schwester begab!
Vielleicht gibt es noch andere Wege, damit du die Welten entdecken kannst, Elphid, erinnerte sich der Junge an die Worte von Iglias. Doch wie genau das aussehen wollte, hatte er ihm nie erklärt. Genauso merkwürdig hatte er reagiert, als Elphid ihm von seinen Träumen mit den Wachen erzählte. Komische Blicke, doch nie ein klares Wort. So als ob es ihm verboten wäre etwas zu sagen. Immer sah Iglias bei diesen Themen danach aus, als ob er was sagen wollte, aber nicht konnte.
»All das ist jetzt auch egal«, rief er in die leere Schmiede und zog das heiße Eisen aus dem Feuer. »Morgen werde ich endlich in die Welten da draußen reisen!« Er griff nach dem Schmiedehammer und klopfte auf Stahl. Das Schlagen des Hammers war nun nicht mehr rhythmisch oder präzise, sondern chaotisch und unkontrolliert. Der schlanke Körperbau des Jungen kam ihm in die Quere, als er versuchte mit voller Kraft auf das Stahl zu schlagen. Genauso wie beim Schwertkämpfen draußen im Wald steckte hier nur der Wunschgedanke von Jahrzehnten an Erfahrung hinter. Die Schläge trafen das Schwert nur zufällig, oder auch manchmal gar nicht. Immer wieder verbrannte er sich, als er das Eisen erhitzte.
Nichtsdestotrotz, gegen jede Wahrscheinlichkeit, entstand am Ende des chaotischen und verschwitzten Prozesses ein Schwert. Ein Schwert, für dessen Existenz der Schmied ihn durch das ganze Dorf jagen würde. Es war verbeult und nicht besonders scharf, aber die Schmiede sollte verdammt sein, wenn es nicht trotzdem ein Schwert war.
»Ja ha!«, machte Elphid den Ausruf des Dorfschmiedes nach und sprang vor Freude in die Luft. »Das ist doch perfekt geworden! Ich könnte glatt den Laden von dem alten Sack übernehmen, wenn ich morgen nicht Wichtigeres zu tun hätte!«
Stolz griff er nach dem Schwert, das zwar brandneu war, aber trotzdem schon älter aussah als der Junge selbst. Er steckte es in die Schlaufe an seinem Gürtel, an dem gerade noch das Holzschwert baumelte. Kurz überlegte er, ob dies der Zeitpunkt für einen sentimentalen Moment wäre, doch er entschied sich dagegen und warf das alte Holzschwert in das Feuer.
Keine Zeit mehr für die Vergangenheit. Jetzt geht es nur noch nach vorne.
Schnell kletterte er wieder durch das Fenster und schaute sich um. »Niemand hat mich gesehen«, flüsterte er zu sich selbst, bevor er mit lautem Rascheln aus dem Busch rannte, hinaus auf die Straße.
Jeder der Dorfbewohner ging den alltäglichen Aufgaben nach. Einige hingen Wäsche auf oder fütterten ein paar Tiere. Jeder der bläulichen Holzhäuser war klein und gemütlich. Die Straße bestand aus Erde, die schon lange nicht mehr das blaue Gras von Adeli gesehen hatte. Einige Kinder spielten auf der Straße mit einem Lederball oder führten ihre imaginären Kämpfe durch. An jedem anderen Tag hätte sich Elphid sicherlich zu ihnen gesellt, doch heute nicht. Ein echtes Schwert ist nichts für diese kleinen Kinder. Ungeduldig rannte er wieder in Richtung Wald, denn er musste ja das neue Schwert auch ausprobieren.
Ein paar Erwachsene schüttelten ablehnend den Kopf, als Elphid an ihnen vorbeirannte. Der kleine Nichtsnutz von Iglias, oder Der Bengel der nur Unfug anstellt waren Sachen, die man ihn oft schon genannt hatte. Doch das alles konnte Elphid herzlichst egal sein.
Er sprang in die Luft, höher als jeder andere hier im Dorf und mit einem seiner kleinen Zaubertricks sprang er nochmal in der Luft. Erklären konnte er sich das nicht, denn für ihn kam das einfach natürlich. Eine unsichtbare Treppenstufe in der Luft, die er sich einfach nur vorstellen musste.
»Mit solchen Tricks werde ich es allen zeigen in den Welten da draußen!«, rief er und schnitt durch einen Ast, genau als er auf dem Boden landete.
Morgen würde endlich seine Reise, sowie die Suche nach seiner Schwester, beginnen.
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