Die Zwischenwelt – Kapitel 16

»Vor einiger Zeit habe ich ein kleines Mädchen getroffen. Sie war noch so jung und lebensfroh, sprang spielend durch die Straßen der Stadt. Wenn ich jetzt von ihr schreibe, so wirkt sie wie ein normales Mädchen. Doch so ist sie mir nicht in Erinnerung geblieben.
Ihre Haare schienen in so einem hellen Blond, dass sie leuchteten. Sie besaß eine kindliche, doch majestätische Art. Nur kurz redete sie mit mir, doch ihre Worte werde ich nie vergessen. ›Wächterin! Wächterin! Du bist eines meiner Lieblingsspielzeuge! Ich werde noch lange mit dir spielen!‹«

Die Zwischenwelt

Ort: Elphids Zwischenwelt

Elphid öffnete seine Augen erneut. Endlich erwachte er wieder ohne Kopfschmerzen und auch seine Erschöpfung war vollkommen verschwunden. Die Meditation schien geholfen zu haben, doch wenn er sich so einmal umschaute, war sie vielleicht zu effektiv.
»Wo ist das Zimmer hin?«, fragte er verwirrt, als er über die Steinbrücke schaute, auf der er nun stand. Irgendwo im Nirgendwo. Vollkommen sicher, dass er an diesem Ort wirklich noch nie war, erstaunte er über das, was er sah. Vor ihm erstreckte sich ein Turm, vollkommen aus Stein erbaut, hoch bis in die Unendlichkeit, bis er irgendwann in den Wolken verschwand. Unter ihm lag der Abgrund in unerkennbarer Tiefe, doch das Seltsamste erblickte er neben, und hinter sich. In der Ferne, rechts von ihm, erblickte er eine riesige, fliegende Kugel aus Wasser, die oben von Moos bedeckt war. Sie war gigantisch und das Wasser im Meer darunter flog wie in einer Spirale zu der Kugel empor. Beinah hätte er seinen guten Messtrick mit seinen Fingern ausprobiert, doch mit Logik brauchte er es hier nicht versuchen. Nichts, rein gar nichts machte an diesem Anblick einen Sinn. Elphid hatte noch nie so etwas in seinem Leben gesehen. Die fliegende Insel war schon schwer zu greifen, aber das? Das Meer unter der Kugel war genauso wild, wie verwirrend, mit hohen Wellen, die an den verschiedensten Steinformationen zerbrachen.
Beinah dasselbe erblickte er links neben sich, nur hier mit Feuer und Lava. Eine riesige Kugel aus Lava schwebte dort in der Luft, und Flammen flogen wieder wie in einer Spirale zu der Kugel empor. Es erweckte den selben Eindruck wie die Beschreibungen der Sonne in den Büchern, die Elphid manchmal lies. Dort wurde beschrieben, dass die Sonne eigentlich ein Palast aus Feuer und Lava war.
Ein riesiges Flammenmeer befand sich unter der Kugel und einige Steinformationen, die hier wahrscheinlich aus getrockneter Lava bestanden.
Elphid blickte hinter sich, und erwartete dort ebenfalls wieder eine fliegende Kugel, aber nein. Als er sich umdrehte, sah er Dunkelheit. Reine Finsternis erfüllte die Welt hinter ihm und das Einzige, was er ausmachen konnte, waren Geräusche von Donnern, die aus der Dunkelheit riefen. Eine Gänsehaut überzog seinen ganzen Körper. Er könnte schwören, dass sich ein Monster in dieser Finsternis versteckte und es rief nach Elphid.
Schnell drehte sich Elphid wieder um und verbannte den Anblick des Grauen aus seinen Gedanken. Er versuchte hinter den Turm vor sich zu blicken, doch es funktionierte nicht wirklich. Er sah nur ein sehr helles, weißes Licht. Viel heller als die Flammenkugel zu seiner linken.
Es schien keinen anderen Weg zu geben, als in den Turm hinein. Elphid näherte sich der alten Holztür und schaute erneut den Turm hoch. Kein Ende…
Elphid öffnete die Tür und wurde von einem Raum begrüßt, der um einiges größer und netter aussah, als er von draußen noch dachte. Nichts hier war aus dem kalten Stein der Brücke oder des Turmes gebaut, sondern aus reinem, braunen Holz. Ein großer Kamin erleuchtete den Raum und füllte ihn mit Wärme. Tische und Stühle standen verteilt, genauso wie in einer Taverne. Neben dem Fakt, dass dieser Raum viel größer war, als der Turm von draußen, brachten Elphid spätestens die Fenster völlig aus dem Konzept. Sie zeigten nicht das große Meer mit der Wasserkugel, oder das feurige Gegenstück. Stattdessen sah er aus dem Fenster die wunderschönen blauen Grasfelder seiner Heimat. Wenn er genau hinsah, könnte er schwören, dass er sogar sein Dorf in der Ferne sah, versteckt durch einen Wald voller blauer und leicht lila Bäumen, deren hellblauen Blätter im Wind wehten.
Voller Vorfreude wieder durch die Felder von Adeli zu rennen, drehte er sich rasant zur Holztür um doch stieß dort, wo die Tür vorher stand, nur gegen eine Wand mit einem Gemälde. Dieses Gemälde zeigte…
»Soll das ich sein?«, fragte Elphid, als er die Person in dem Gemälde sah. Es war ein junger Mann, mit etwas längeren, dunkelblondes und chaotischen Haaren, genau wie seine. Er schaute sehr ernst aus, doch das Gesicht, was ihm gegenüberstand, kannte Elphid. Es war sein Gesicht, nur ein paar Jahre älter. Das, was ihm versicherte, dass es sich um ihn handelte, war die einzelne Sommersprosse auf der Nase.
Das älter Abbild von ihm trug ebenfalls eine Lederjacke, die aber deutlich größer war, sowie eine bessere Qualität besaß. Dennoch ging auch diese Jacke ihm wieder nur bis zum Brustkorb. Wird das jetzt zu meinem Ding, oder was?
Sein Bauch wurde bedeckt mit schwarzem Verband, oder so etwas in der Art. Das, was dieser ältere Elphid aber tat, war der klare Unterschied zwischen ihnen. Er hatte nur ein Arm in seinem Ärmel, der andere lag frei und erhoben, wodurch Elphids Oberkörper entblößt wurde. Seine Hand war nach oben ausgestreckt, als ob er zeigen würde, dass er etwas in der Hand hatte, doch sie war leer. Um sein Handgelenk trug er ein Armband, das Elphid aber nicht erkannte. Sein linker, gehobener Arm leuchtete blau und sein rechter Arm schien etwas aus seinem linken Arm herauszuziehen. Er hielt bereits den Griff eines großen Schwertes in der Hand, dessen Klinge er gerade aus seinem linken Arm zog. Der Griff, aber auch die Klinge bestanden dabei nicht aus Stahl, sondern war transparent und leuchtete hellblau. Es ähnelte dem Trick von Elphid, wenn er eine Münze aus dem Nichts herstellte. Aber ein ganzes Schwert? Materialisiert der Typ da wirklich ein Schwert aus seinem Arm? Materialisiere ich da ein ganzes Schwert aus meinem Arm?!
»Ja, das tust du«, sprach eine junge, hohe Stimme. Sie hörte sich weiblich an, doch nicht von einer Frau, sondern von einem kleinen Mädchen.
Sofort drehte sich Elphid um und sah ein kleines Mädchen auf einem Stuhl, mitten in dem Raum, sitzen. Sie war sehr jung, mit langen blonden Haaren, die ihr bis zu den Füßen gingen. Es gab nichts wirklich Außergewöhnliches an diesem Mädchen, bis auf ihre strahlenden Augen. Solch ein helles Blau hatte Elphid noch nie gesehen und das sollte was heißen.
»Kannst du hören, was ich denke?«
»Ja, das kann ich.«
Bist du dir sicher, dachte Elphid und schaute sie ganz ernst an.
»Ja, das bin ich«, antworte sie und kicherte dabei. »Du bist lustig, ich mag dich, Elphid!« Das Mädchen kletterte auf einen Tisch neben Elphid und schaute sich ihn ganz genau an und schaute sich danach das Gemälde an. »Ich habe dich echt gut getroffen, auch wenn du älter ein wenig besser aussiehst.«
Elphid schaute sie nur verwirrt an. Vielleicht hatte er in letzter Zeit viele Fragen gehabt und er wurde durch vieles verwirrt, doch dieses Mädchen, dieser Raum und diese Welt überstiegen wirklich alles Bisherige. »Wer bist du? Wo bin ich? Und warum fliegen da draußen diese großen Kugeln?«
»Das hier ist Teil der Zwischenwelt! Der ›Eingangsbereich‹ wenn du so magst. Jeder muss hier durch, wenn er das erste Mal meditiert. Was mich nur durcheinander bringt ist, dass du hier nochmal bist?«
»Du solltest nicht die sein, die verwirrt ist! Was meinst du mit nochmal?«
»Wirklich ein wenig frech von dir, dass du dich nicht mehr an mich erinnerst! Du warst hier vor einigen Jahren schon einmal, aber da warst du wirklich noch sehr klein. Du konntest nicht einmal reden. Schön aber wieder hier zu sein, in deiner Zwischenwelt. Diese gemütliche Taverne habe ich wirklich vermisst«, erklärte das Mädchen weiter. Elphid war sich sicher, dass er noch nie hier war, also machte es keinen Sinn, was sie da sagte. Doch auch Dask und Serce hatten etwas Ähnliches gesagt. Diese erste Meditation war notwendig, um seine Magie zu erwecken. Elphid aber schien aber bereits auf seine Magie zugreifen zu können, denn seine Sprünge oder das Zaubern kleiner Gegenstände waren scheinbar Magie, zumindest hatte Dask das gesagt.
»Ich war also noch ein kleines Kind, als wir uns das erste Mal begegnet waren?«
»Ein kleines Baby, ja richtig. Damals konnte ich nur über deine Gedanken mit dir kommunizieren.«
»Aber wie war ich hier hergekommen?«
»Du warst so jung, ich war froh, dass du wusstest, wie dein Name war. Immer wieder hast du nur ›Axilia! Axilia‹ im Inneren gerufen. Du schienst sehr besorgt zu sein um deine Schwester.«
»Meine Schwester? Du kennst sie? Wo ist sie jetzt?!«, fragte er gespannt.
»Ich glaube, das darf ich dir jetzt nicht sagen. Angst würde zu sauer werden, weil das geht gegen unsere Spielregeln. Bevor du aber jetzt noch mehr Fragen stellst, weil das noch weniger Sinn macht für dich, kann ich dir sagen, dass du auf dem richtigen Weg bist. Sie ist näher als du denkst.«
»Aber was mache ich denn dann hier? Dask meinte, dass meine Verbindung zu der Zwischenwelt gestört ist. Du scheinst mir da bisher schlecht zu helfen. Immer diese kryptischen Botschaften, ohne genaue Aussage. Iglias hat das auch immer gemacht! Was also kannst du mir sagen?«
Das Mädchen schwieg kurz und schaute Elphid beinah verängstigt an. »Es tut mir leid, ich wollte nicht laut werden…Es waren ein paar schwierige Tage«, sagte er dann und schämte sich leicht.
»Ich weiß, dass du vieles durchmachst«, sagte das Mädchen verständnisvoll. »Es tut mir leid, dass ich dich durch all das ziehe, aber du bist wichtig. Erinnerst du dich daran, dass Iglias von der Geschichte von Hoffnung und Angst erzählen wollte?«
Überrascht schaute Elphid sie an. »Du weißt davon?«
»Ich weiß eigentlich alles über dich und was dir passiert ist, solange ich mich auch daran erinnere. Angst ist mein älterer Bruder und ich bin Hoffnung. Ich möchte Iglias nicht die Gelegenheit nehmen, dir von uns zu erzählen, aber wir sind so etwas wie die, die all das hier gemacht haben. Alle Welten sind für uns wie ein Sandkasten und alle Sterbliche unsere Spielzeuge darin.«
»Findest du es nicht ein wenig fies uns nur als Spielzeuge abzustempeln?«
»Wieso das denn? Ich liebe Spielzeuge! Und du, Elphid, bist mein wichtigstes. Meinem Bruder aber gefällst du nicht. Ihm gefallen nie die Spielzeuge von mir. Deshalb wirst du wohl viel durchmachen müssen… Bitte also halte durch.«
Elphid schlenderte durch den Raum und dachte nach. Angst und Hoffnung, die Erschaffer der Welten? Redete er hier wirklich gerade mit Gott?!
»Das alles erzählst du allen Magiern? Warum stellen sich dann die ganzen Dimensionswachen auf die Seite von Vasil und beten andere Götter an, die nicht ihr seid?«
»Nur wenigen zeige ich mich so. Den meisten erzähle ich einfach was für eine Magie sie benutzen können, dann fragen sie, was das Bild von ihnen bedeutet und dann war es das auch wieder. Viele kommen aber auch nie zu mir, sondern dann macht Angst das ganze hier. Die meisten der Wachen reden denke ich mal mit ihm.«
Was Fidi und Dask wohl das erste Mal gesehen haben, als sie hier waren?
»Wollen wir dann noch die Standards durchnehmen oder reicht dir das?«, fragte das Mädchen und schaute ihn schräg an.
»Na gut, was für Magie kann ich denn nutzen?«
»Jede Magie.«
Elphid starrte sie an, so als ob sie ihn für dumm verkaufen will. »Was genau soll ich mit dieser Information eigentlich anfangen?«
»Es tut mir leid, ich bin es auch nicht, gewohnt Dimensionsgeborenen ihre Fähigkeiten zu erklären. Das war schon immer meine Schwäche!«
»Du bist Gott, was für eine Schwäche?«
»Auch Götter sind nicht perfekt!«, sagte sie und schmollte von nun an.
Elphid atmete verzweifelt aus. Er hätte nicht gedacht, dass Gott so ein Kleinkind ist. »Was genau heißt es denn, dass ich jede Magie benutzen kann.«
»Das ist doch mal eine gute Frage, im Gegensatz zu den anderen«, flüstere sie vor sich hin, doch Elphid hörte sie trotzdem. Er atmete tief durch und hielt sich zurück. »Alle Magier haben eine bestimmte Art von Magie. Als Dimensionsgeborener hast du das Talent, dass du alle von ihnen lernen könntest, wenn du magst. Deshalb hast du draußen auch Wasser, Feuer, Wind, Erde, Licht und Dunkelheit gesehen. Normalerweise sehen alle nur eines dieser Elemente, mit denen dann ihre Magie mehr oder weniger lose verbunden ist.«
»Aber wenn ich alle Magie kann, warum ist meine Verbindung zu der Zwischenwelt dann gestört? Wieso werde ich so oft ohnmächtig und sehe wirre Erinnerungen, die ich vollkommen vergessen habe?«
»Du weißt, dass das nicht die Frage ist, die du mir ursprünglich gestellt hast, richtig?«
»Dafür bin ich doch aber hier!«, sagte Elphid, etwas ungeduldig.
»Dann sag das doch auch. Ich kann doch keine Gedanken lesen!«, verteidigte sich Hoffnung bockig.
»Ich dachte, genau das kannst du!«
»Oh stimmt…Das vergesse ich manchmal«, sagte sie und zuckte mit den Schultern.
Elphid starrte sie einige Zeit an und sie starrte zurück. Er kam sich dämlich vor.
»Kommt da heute noch was?«, fragte Elphid erneut ungeduldig.
»Ha! Ich hab den Anstarrwettbewerb gewonnen!«, rief Hoffnung fröhlich aus.
»Das war doch kein Wettbewerb! Ich will einfach nur wissen, was los ist mit mir!«
»Ha! Ich hab den Anstarrwettbewerb gewonnen!«, rief Hoffnung erneut aus, genau in dem gleichen Ton wie gerade, doch erstarrte selbst dabei.
»Okay, du hast gewonnen, du kannst jetzt aufhören damit.
»Ha! Ich hab den Anstarrwettbewerb gewonnen!«, rief sie erneut, während ihre Augen in die Leere blicken. Die Wände um Elphid herum fingen an zu wackeln und zu knirschen. All das wurde Elphid schnell unheimlich, doch das Wackeln wurde immer stärker, dass sogar der Boden anfing unsicher zu werden. Elphid hielt sich an einem Tisch neben ihm fest.
»Könntest du vielleicht aufhören?! Was soll ich denn bitte noch machen?! Das macht doch alles kein‘ Sinn!«, rief er, doch erhielt keine Reaktion. Das Mädchen wiederholte weiterhin nur dieselbe Frage.
»Ha! Ich hab den Anstarrwettbewerb gewonnen!«
Langsam begann die Holzbretter der Decke abzubrechen und ins Nichts zu fliegen. Dort, wo Löcher entstanden, war nun absolute Dunkelheit. Auch der Boden fing langsam an zu bröckeln und zu verschwinden.
Das Mädchen fing an einen lauten, ohrenbetäubenden Schrei von sich zu geben, was dazu führte, dass Elphid den Tisch loslassen musste, um sich die Ohren zuzuhalten. Dadurch verlor er schnell sein Gleichgewicht und flieg nach hinten. Er bereitete sich auf den Aufprall mit der Wand und dem Gemälde hinter ihm vor, doch schloss panisch die Augen und rief: »Das ist alles nicht real, alles nicht real!«
Und so flog er nach hinten, und flog, und flog…
Der Aufprall, auf den er sich so vorbereitet hatte, kam aber nicht.
Stattdessen stoppte er einfach.
Was war das hier alles? Was passierte hier bitte? Worauf habe ich mich hier eigentlich eingelassen?!, dachte sich Elphid, doch langsam brachen seine Gedanken frei.
»Was soll das alles hier?! Ich will das alles nicht! Ich will hier raus! Wie komme ich hier raus!«, fing Elphid an zu schreien. Mit seinen Händen griff er sich verzweifelt an den Kopf und er fiel auf die Knie. Sein Herz fing an zu rasen, erste Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn und er atmete immer panischer. All dies ging noch solange weiter, bis der Junge anfing zu weinen. Tränen fingen an seine Wange entlangzuwandern, bis er sie mit seiner rechten Hand wegwischte und diese danach anblickte. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal geweint hatte. Elphid weinte nicht oft, denn welchen Grund sollte er dafür in Adeli gehabt haben? Jetzt aber in den Welten da draußen…
Dunkelheit umgab Elphid. Das Mädchen hatte es doch selbst gesagt, dass es dieser Eingangsbereich zur Zwischenwelt war. Aber warum endet es nicht mehr? Wieso war er in vollkommener Dunkelheit und nicht bei Fidi und Dask in der Unterkunft? Er meditierte doch noch, nicht wahr? Schnell drehte sich Elphid um, doch er erkannte gar nichts. Drehte er sich überhaupt? Elphid konnte sich nicht sicher sein, denn es umgab ihn keine Luft, es gab kein Orientierungspunkt. Nur auf seine eigenen Muskeln konnte er vertrauen und diese bewegten sich noch, oder? Ich bin doch nicht tot, oder?!
»Elphid«, hallte eine Stimme. Sie wirkte so entfernt und doch so nah. »Elphid, hab keine Angst.« Er kannte diese Stimme. Es war nicht das kleine Mädchen und auch nicht Fidi. Er hatte diese Stimme in letzter Zeit öfter gehört, doch nie gesehen.
»Axilia, wo bist du?«, rief er in die unendliche Dunkelheit. Noch einmal drehte er sich vergeblich um, in der Hoffnung endlich eine Veränderung, ein Licht in der Dunkelheit zu finden. So stand diese Veränderung nun vor ihm, nach der er sich so gesehnt hat. Glauben konnte er es aber nicht.
»Du bist groß geworden, Bruderherz«, sagte seine Schwester. Axilia stand vor ihm, da war er sich sicher. Bisher dachte er, dass er sie noch nie gesehen hatte. Jetzt aber wo sie vor ihm stand, kehrten die Bilder zurück. Ihre Haare, blond mit einem leichten Ton von Rosa. Das Gesicht, was dem Gesicht von Elphid doch ähnelte, wenn er in einen Spiegel schaute. Eine Schwertscheide an der Seite und ein riesiges Schild auf dem Rücken, das zeigte, dass sie zwar eine große Kämpferin war, aber dem Beschützen die Priorität gab. Vorbereitet auf jede Schwierigkeit, aber mit einer Lässigkeit in ihrem auftreten durch ihre Lederrüstung, die wichtige Körperteile schützte, doch andere, wie ihre rechte Schulter, entblößte. Sie wirkte wie eine selbstbewusste, große Kriegerin aus den Märchen, die Iglias ihm manchmal erzählte.
Immer hatte er sich gewünscht sie endlich zu sehen, sie endlich zu finden. Nun war seine Schwester hier. Die orangefarbenen Augen, ihr glückliches Lächeln und ihre sanfte Stimme. Das war Axilia vor ihm.
»Axilia…«, sagte Elphid, seine Stimme schwach. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten, so schockiert war er. Seine großen blauen Augen schauten in die Augen seiner Schwester, als er versuchte Worte zu finden.
Sie kniete sich vor ihn und legte ihre Hand auf seine Wange. »Es ist schön dich endlich wiederzusehen, Elphid.«
Dutzende Fragen schossen durch seinen Kopf. Was machst du hier? Wo sind wir hier? Bist du es wirklich? Aber all diese Fragen mussten erst weichen, denn es gab etwas wichtigere. Elphid ließ sich in die Arme von Axilia fallen. Er konnte kaum noch die Energie aufbringen ihr in die Arme zu springen, also musste dies genügen. Der Junge konnte nicht anders, als heftigst zu atmen, doch Axilia fing ihn sanft auf und gab ihm eine warme Umarmung, nach all den Jahren, in denen er nicht einmal wirklich wusste, ob sie existierte. So konnte Elphid seinen Gefühlen keinen Rückhalt mehr geben und die Tränen fließen. Seine Schwester zu finden war alles, was er je wollte.
Es war so, als ob das Puzzleteil, dass er immer gesucht hat, endlich da war. Eine Lücke in seinem Herzen, von dem er zwar wusste, dass sie existierte, doch erst jetzt bemerkte er, wie groß dieses Loch eigentlich war.
Sie verblieben so für einige Zeit, die sich für Elphid wie die wunderbarste Ewigkeit anfühlte, die er sich nur vorstellen konnte. Axilia hielt ihn, bis er sich langsam wieder beruhigte. Sein Atem wurde langsamer und die Tränen stoppten.
»Es ist das schönste, in all den Welten, dass ich dich wiedersehen darf«, sagte Axilia und löste die Umarmung vorsichtig. »Doch die Zeit ist nicht auf unserer Seite.«
Kurz blieb Elphid das Herz stehen. »Haben wir nicht viel Zeit? Gehst du wieder weg?«, fragt er schnell. Er hatte sie doch gerade erst wiedergefunden. Sie durfte noch nicht wieder verschwinden!
»Elphid, das ganze hier ist nicht die Realität.« Sie schaute sich in der unendlichen Finsternis um. »Das hier ist nicht dein wirkliches Du und ich…«, sie unterbrach ihren Satz kurz. »Ich bin auch nicht mein reales Ich. Du bist am meditieren und hast deinen Geist in die Zwischenwelt gebracht, auch wenn das schon nicht mehr ganz zutreffend ist«, erklärte sie und stand wieder auf.
»Du besitzt also auch diese Magie?«, fragte Elphid unglaubwürdig und kniete weiterhin auf dem Boden.
»Wir beide haben dieselbe Gabe erhalten, auch wenn die Chancen dazu minimal waren.«
»Aber wenn du nicht wirklich hier bist, wo bist du dann? Wo kann ich dich finden, Axilia?«
»Ich bin in einer Welt, die sich ›Die Arche‹ nennt. Die Welt ist eine der versteckten, weshalb du sie normal nicht erreichen wirst, sondern eine Karte brauchst. Du wirst mich finden, das weiß ich. Das ist der Grund warum du das hier alles überhaupt machst, nicht wahr?«
Elphid hörte gespannt seiner Schwester zu und nickte eifrig. Axilia schien dies zum Lächeln zu bringen.
»Du musst nur aufpassen. Es mag so wirken, als ob es so viel Grausames da draußen gibt in den Dimensionen. Das ist so aber nicht richtig. Die Dimensionen sind wunderschön und beherbergen so viel Tolles. All das, was so grausam wirkt, sind die Machenschaften von Vasil und seinen Dimensionswachen. Nimm dich in Acht vor ihnen. Es ist schon gefährlich, dass du hier bist, doch es war notwendig. Deine Verbindung zu den Dimensionen war gestört, doch das sollte vorbei sein. Du hast alles richtig gemacht.«
Sie beugte sich zu Elphid hinunter und wischte ihm noch eine Träne aus dem Gesicht. »Auch wenn es wichtig ist mich zu finden, ist es wichtiger, dass du überlebst.«
»Ich werde dich finden, Axilia! Und natürlich werde ich überleben«, sagte Elphid, mit einem so selbstverständlichen Selbstbewusstsein.
»In all den Jahren, in denen ich durch die Dimensionen gereist bin, habe ich vieles gesehen. Die schönsten Felder, Wälder und Berge. Natur, die beinah so schön war, wie das blaue Meer Zuhause. Unzählige Sterbliche, so viele nette Seelen. Doch nach all dem, was ich gesehen habe, warst du das Beste, was ich je getroffen habe. Du bist wichtig, Elphid. Du bist Hoffnung…«, sagte sie und nahm die Hand von Elphids Gesicht. Ihre Gestalt schien langsam durchsichtiger zu werden.
»Warte Axilia! Wie soll ich bitte an diese Karte kommen? Was bedeutet das alles?« fragte Elphid und rief dies noch mit lauter Stimme, bevor Axilia verschwinden würde.
»Du bist auf dem richtigen Weg. Dask ist bei dir, richtig? Vertrau ihm, er würde alles für dich tun, da bin ich sicher. Ich glaube an dich, Bruderherz. Und vergiss nicht, dass ich immer näher bei dir bin, als du denkst…«, hallten die letzten Worte von Axilia durch die Dunkelheit, bevor sie verschwand.
Elphid blieb alleine in der Finsternis zurück, doch fühlte sich sicher, dass er Axilia finden würde. Wie aber kam er jetzt aus diesem Ort wieder weg?
Eine laute, hallende und bedrohliche Stimme erklang: »Emeraldus, Emeraldus! Illegale Nutzung von Magie in Emeraldus!«
Elphid erstarrte dabei und fing wieder an Panik zu bekommen. Sein Atem wurde schneller, seine Beine fingen an zu zittern und sein Herz schlug schnell. Was ist das? Sind das die Wachen? Ich habe zu lange meditiert, ich Idiot!, dachte er panisch. Die Stimmen erklangen erneut und wurden immer lauter, bis Elphid schlagartig erwachte.

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