Die Hoffnung im Mittelpunkt – Kapitel 6

»Als ich erfahren habe, wie die Ausbildung der Dimensionswachen abläuft, und wie das Leben unter den Wachen abläuft, kamen mir nur umso mehr Fragen. Wieso sollten diese Sterblichen, die mit dieser Gabe geboren waren, ihre eigenen Leute verraten, für solch ein Leben?
War ein Leben als Waffe so viel besser als keines überhaupt?«

Die Hoffnung im Mittelpunkt

Die meisten der Stadtbewohner, an denen Elphid entlang kam, waren Wachen. Jeder von ihnen trug ihren schweren Mantel und eine Maske im Gesicht. Vielen von ihnen fehlte dennoch der Kampfstab, die lange Waffe mit der scharfen Klinge am Ende. Wahrscheinlich brauchte man einfach keine Bewaffnung in der eigenen Heimat. Doch auch ihre Masken sahen anders aus, als die der Wachen, die ihn durch die Stadt führten. Während die Muster auf den Masken von Dolos und Tyl rot waren, waren diese hier grau.
Der Weg, auf dem sie gingen, war einige Meter breit, und auch dieser Boden war völlig zu Tode getrampelt und zugedeckt mit Pfützen.
Massen an Regen fielen auf jeden und alles im Lager nieder. Nichts überdeckte sie. Immer wieder musste sich Elphid die nassen Haare aus dem Gesicht wischen. Schnell hatte er sich dazu entschieden, dass er Regenduschen nicht sonderlich mochte.
Sie gingen an den verschiedensten Lagern vorbei, sie alle waren durch dunkle Holzmauern voneinander abgeschnitten. Überall befanden sich irgendwelche Schilder mit Begriffen oder merkwürdigen Kombinationen aus Buchstaben. »Lager G-5, Abteil 51-048.« Elphid konnte mit all dem nichts anfangen und war sich auch unsicher, ob er jemals etwas damit anfangen wollte. Vielleicht war diese Welt vieles, aber auf keinen Fall eine Heimat.
Seine ›Eskorte‹, wie er langsam angefangen hatte sich und die Wachen zu nennen, zog viele Blicke auf sich. Zuerst dachte Elphid, das lag daran, weil er eben keine Maske trug, was vielleicht auch immer noch ein Grund dafür war. Dennoch, sobald sie tiefer in diese Anhäufung von Lagern gedrungen waren, kamen ihnen auch Frauen und Kinder entgegen. Jedes Kind, das er sah, war noch sehr jung, keine in seinem Alter. Viele von ihnen wurden noch von ihren Müttern getragen. Sie alle waren simpel gekleidet, mit grauen Stoffklamotten. Aus der Ferne sah Elphid wie sie normalen Alltagsaufgaben nachgingen, doch sobald er und seine Eskorte sich näherten, wurden ihre Augen groß. War ein Junge wie Elphid wirklich so ungewöhnlich hier? Tyl musste doch sicherlich ähnlich alt sein wie Elphid, richtig? Doch er trug schon Mantel, Maske und Waffe. Hatte Elphid also sehr viel nachzuholen?
Ein kleines Kind weinte in seiner Nähe. Es wirkte nicht dramatisch, Elphid hatte gelernt, dass manche kleinen Kinder einfach manchmal weinten. Wenn man Iglias glauben sollte, hatte Elphid als kleines Kind auch oft geweint. Für den Kleinen wiederum war es aber bestimmt etwas herzzerbrechendes, wie der Verlust seines Lieblingssteines. Genau für solche Fälle hatte er sich in Adeli damals kleine Zaubertricks ausgedacht. Diese halfen immer, um aus ein weinendes Kind in ein Lachendes zu verwandeln.
Schließlich kam er in die Nähe des kleinen Kindes. Der Junge stand am Straßenrand, seine Mutter neben ihm versuchte überhaupt nicht, das Kind zu trösten. Eher ignorierte sie ihren Kleinen vollkommen. Das Kind schrie sich trotzdem dramatisch die Seele aus dem Leib, obwohl wahrscheinlich diese plötzliche Unruhe einfach zu viel für ihn war. Elphid konnte das nur zu gut nachvollziehen. Er selbst hatte kein Wort mehr seit seiner Ankunft von sich gegeben hatte, mittlerweile sicher, dass er nicht hier sein wollte.
Elphid schnipste, um die Aufmerksamkeit des kleinen Kindes zu erlangen. Dann griff er mit leerer Hand hinter sein Ohr und lies eine Münze erscheinen. Er hatte wirklich keine Ahnung wie er das machte, doch irgendwann hatte er diese kleinen Tricks zufällig entdeckt. Er stellte sich einen kleinen Gegenstand vor, wirbelte mit der Hand ein wenig herum, wodurch die Luft sich ein wenig verschwamm und schon war das Ding, dass er haben wollte, in seiner Hand. Elphid riss die Augen mit einer gespielten Dramatik auf, als er dem Kleinen die Münze präsentierte. Der weinende Junge fing langsam an zu lachen, was Elphid ein Lächeln bereitete. Mit einer schnellen Handbewegung ließ er die Münze wieder verschwinden, wodurch der kleine Junge anfing zu staunen. Noch bevor Dolos etwas merken konnte, erschien die Münze wieder, Elphid schnipste sie dem Jungen zu und zwinkerte ihm zum Abschied. Er holte mit ein paar schnellen Schritten wieder auf. So viel Zeit muss wohl sein, dachte er.

Während Elphids Stimmung endlich wieder einen Schub bekommen hatte, durch den kleinen Jungen, den er glücklich machen konnte, wurde er schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Elphid wurde von Dolos in ein riesiges Gebäude geführt. Er nannte es eine ›Arena‹, in denen die Aufnahmeprüfungen stattfanden. Alleine der Fakt, dass es aus mehr als zwei Stöcke besaß und damit ein vielfaches höher war als das Haus von Iglias, war für Elphid sehr viel zu verarbeiten. Aus dem Zimmer, in dem er sich fertig machen sollte, konnte er in den Innenhof sehen. Eine große, leere Fläche aus Dreck und Matsch befand sich in diesem ringförmigen Gebäude, umgeben von vielen Sitzplätzen. Dennoch sah er nun endlich, wie die Gebäude der Wachen aussahen, wenn sie nicht nur aus Zelten bestanden. Schwarze Steine waren so ziemlich das Einzige, aus dem die Arena bestand. Säulen, die an dem Gebäude hochgingen waren verziert und wirkten alt, doch gut erhalten. Es war das Erste, was Elphid sah, bei dem er den Eindruck hatte, dass sich dort Gedanken gemacht wurden. Die große Präsenz der Arena wirkte bedrohlich und imposant.
Elphid wusste nicht einmal, wofür er sich hier fertig machte. Er hatte auch überhaupt nichts dabei zum Umziehen, nur die selbstgemachte Lederrüstung, die er immer trug. Sie bestand aus einer lockeren Weste, die nur mehr oder weniger seinen Brustkorb schützte, Handschuhen, die ihm seinen gesamten Unterarm bedeckten und seinen Schuhen, die ihm bis zu den Knien gingen. Iglias hatte die Rüstung immer als unpraktisch gesehen, doch Elphid fand sie perfekt. Den Rest der Zeit nutze er also, um sich auszuruhen. Sie hatten ihm eine Auswahl an Waffen ins Zimmer gestellt, sowie Rüstungen. Alles Zeug, mit dem Elphid gar nicht umgehen konnte. Sogar eine dieser Kampfstäbe war dabei. Kurz hatte er mit all den Waffen herumgespielt und die größte Rüstung, die er finden konnte, anprobiert. Mit den Waffen hätte er beinah das Fenster aus Versehen eingeschlagen und unter der Rüstung war er fast zusammengebrochen. Elphid blieb daher bei seinem selbst geschmiedeten Schwert, sowie der Lederrüstung.
Irgendwann klopfte Tyl an seine Tür und trat ein. »Der Ausbilder ist bereit, du wirst unten erwartet«, sagte er.
»Tyl?«, fragte Elphid und schaute unsicher zu ihm. »Was genau ist diese Aufnahmeprüfung eigentlich?«
»Du weißt es nicht?«
Elphid schüttelte nur den Kopf, woraufhin Tyl seufzte und die Tür hinter sich schloss. »Wurdest du gar nicht auf heute vorbereitet?«
»Überhaupt nicht! Ich wusste immer, dass ich irgendwann mal eine Wache werde und die Welten bereisen würde. Trotzdem habe ich keine Ahnung, was da draußen auf mich wartet, mal abgesehen davon, dass bisher nichts so läuft, wie ich mir vorgestellt habe!«, erklärte Elphid und musste feststellen, dass seine Hand zitterte. Wohin hatte Iglias ihn hingeschickt?
Tyl zögerte ein wenig und schien nachzudenken. Es war wirklich schwer diese Wachen einzuschätzen mit ihren Masken. »Die einfache Erklärung? Geh da raus und zeig, was du kannst! Die harte Wahrheit? Wenn du so wenig vorbereitet wurdest, wird das da draußen eine schmerzhafte Angelegenheit«, sagte Tyl und Elphid dachte bereits zurück an die beiden Schläge von Dolos. »Ich melde mich gleich freiwillig, um dein erster Prüfer zu werden. Dann gebe ich mein Bestes, damit ich dir eine Starthilfe geben kann.«
Elphid atmete erleichtert aus. »Danke, Tyl«, sagte Elphid und lächelte schwach. Von den zwei Sterblichen, die er kennengelernt hat, seitdem er Adeli verlassen hat, war Tyl einer der Guten. Konnte es vielleicht sein, dass Tyl die gute Wache aus seinen Träumen war? Die Wache, die ihn retten würde aus dieser brenzligen Lage?
Sie beide standen auf und Tyl öffnete die Tür. »Mögen die Götter die wohlgesonnen sein, Elphid«, sagte Tyl und führte ihn danach auf die freie Fläche der Arena.

*

Die ganze Arena war voll, doch Fidi und Dask hatten es erfolgreich auf die Zuschauertribüne geschafft. Eigentlich war es ein Wunder, denn der Großteil der Zuschauer waren Mütter und sehr junge Kinder. Das ganze Chaos und das Aufsehen, dass dieses Ereignis aber mit sich brachte, spielte wohl den Beiden in die Karten. Still standen sie da, Kapuze auf gegen den Regen, und beobachteten die Aufnahmeprüfung. Fidi hatte sich diesen besagten Dimensionsvollkommenen viel bemerkenswerter vorgestellt. Stattdessen hatte ein Junge in ihrem Alter die Arena betreten, der völlig überfordert mit der Situation war. Er wusste nicht, wo er stehen sollte, was zu sagen oder zu tun war, und hatte als Ausrüstung ein verbeultes Schwert und kaum schützende Teile einer Lederrüstung. Das war ein Grünschnabel, und kein legendärer Dimensionsvollkommener.
»Bist du sicher, dass wir hier nicht in eine Falle getappt sind?«, fragte sie Dask leise, doch dieser wirkte völlig fokussiert auf die Prüfung. Den ersten Prüfer, eine junge Wache, was sie erkannt hatte durch die Muster auf seiner Maske, hatte Elphid bereits mehr oder weniger erfolgreich besiegt. Kein Einsatz irgendeiner Magie, zumindest keine, die sie erkannte.
»Auf keinen Fall. Der Junge ist ein Dimensionsvollkommener«, sagte Dask und ließ den Blick nicht von dem Jungen ab. Nicht eine Sekunde, seit sie hier hergekommen waren, hat er auf etwas anderes geachtet.
»Bist du sicher? Er ist durch den ersten Kampf nur so gestolpert.«
»Richtig, er ist völlig unvorbereitet, ohne Training oder Erfahrung«, sagte Dask. Hörte er sich eigentlich selber zu, wenn er etwas sagte? »Und trotzdem hatte er eine Dimensionswache ohne einen Kratzer besiegt.«
Fidi schaute wieder zu dem Jungen. War da etwas dran, was Dask sagte? Vielleicht war es zu kurzsichtig von ihr, aber jemand ohne jegliches Training sollte auch gegen die schlechteste Dimensionswache zu Fall gehen. Dieser Junge da in der Mitte schien aber nur die Überforderung der Situation zu beeinflussen, und nicht der Kampf gerade eben.
Der nächste Prüfer, eine Wache der zweiten Ebene, stellte sich dem Jungen gegenüber. Mit schnellem Schritt raste er auf ihn zu und verpasste ihn einen Schlag mit dem Kampfstab. Der Junge fiel um einige Meter zurück und schlug mit dem Gesicht auf. Vergiss es, Dask ist verrückt geworden, dachte Fidi.
Fidi schaute sich bereits paranoid um. Den Gedanken, dass das hier alles doch eine Falle war, wurde sie nicht los.
»Er steht wieder«, sagte Dask und Fidi schaute zum Feld. Dask hatte recht, der Junge stand schon wieder. Er atmete nicht einmal schwer. Ganz im Gegenteil, er rannte auf seinen Prüfer hin, setzte zum Sprung an und dann… sprang er ein zweites Mal, in der Luft?
Fidi schaute fragend zu Dask hoch. »Mehrere Sprünge, in der Luft?«
»Sprünge eines Herstellers. Das ist Magie der Materialisation, und dazu sehr fortgeschrittene. Ich habe viele Monate gebraucht um sie holprig anzuwenden und viele Jahre um sie zu perfektionieren. Der Junge da? Er springt einfach in der Luft, ohne eine Mühe.
Also war es wahr? Konnte der Junge wirklich ein Dimensionsvollkommener sein? Oder war er vielleicht doch nur ein Glückspilz, eine gut trainierte Wache, die sich nur ungeschickt stellte? Fidi wurde die Paranoia einfach nicht los.

Elphid sprang in die Luft. Ein wirklich beachtlicher Sprung von beinah drei Meter, doch das war noch nicht genug. Ganz genau stellte er sich eine Treppenstufe in der Luft vor und sprang von dieser erneut ab.
Nun befand er sich hoch über seinem Gegner, der zweite Prüfer. Den Kampf gegen Tyl hatte er bereits bestanden, doch Tyl hatte es ihm einfach gemacht und ihm viel von der Aufnahmeprüfung erklärt während des Kampfes.
In der Luft schaute Elphid sich um. So viele Sterbliche, hier in der Arena. Es war wirklich wie in seinem Traum. Unzählige Wachen mit ihren Masken, die ihn alle beobachteten, und er in der Mitte. Der Regen prasselte auf ihn nieder, genauso wie er es jetzt auf seinen Gegner tun würde. Elphid trat mit dem Fuß in die Richtung seines Gegners. Sein Kopf war das Ziel, doch bevor er Elphid etwas tun konnte, steckte sein Bein in der Zwänge, festgehalten zwischen den Armen von seinem Gegner. Elphid verlor die Kontrolle und bemerkte, wie der Boden ihm immer näher kam, bis er mit voller Kraft auf dem Rücken aufschlug.
Elphid keuchte nach Luft. Sein Schwert war ihm aus der Hand gefallen und so war er der Gnade seines Gegners ausgeliefert. Die Wache ragte über ihm empor, der Kampfstab in ihrer Hand. Die Blicke der Zuschauer, der Wachen, nein, der von Dolos bohrte sich in ihn hinein.
Wenn das hier wie im Traum ist, dachte Elphid, dann kann Tyl endlich auftauchen und mich retten.
Tyl, die angeblich gute Wache. Er musste es sein, richtig? Er war es, der Elphid bisher geholfen hatte, mit all dem hier. Doch Tyl war wieder in dem Gebäude der Arena verschwunden, nachdem ihr Kampf vorbei war, richtig? Weggeschickt von Dolos. Waren all die anderen Sachen, die mit seinen Träumen übereinstimmten, nur Zufall gewesen?
Ein lautes Knallen hallte durch die Arena. Die Wache über ihm, die schon zum Schlag ausholte, erstarrte. Schnell schaute sich Elphid um, doch sein Sichtfeld war nach wenigen Sekunden völlig eingeschränkt. Schwarzer Rauch hatte sich um ihn gelegt. Eine Rauchwolke. Gehört das hier mit zur Prüfung?
Die Wache über Elphid schaute sich verwirrt um, doch es war unmöglich etwas zu sehen. Die nächsten Sekunden blitzten an Elphid vorbei, ohne eine Ahnung was passierte. Etwas Schnelles und Dunkles raste über Elphid hinüber, direkt an der Woche vorbei. Rote Flüssigkeit spritzte über Elphid und die Wache fiel nach hinten zu Boden. Vorsichtig, aber vor allem zitternd, setzte Elphid sich auf, wischte sich die Flecken aus dem Gesicht. Mit einem Blick auf seine Hand merkte er, dass sie blutverschmiert war. Mit Grauen erkannte Elphid so langsam, was hier passierte. Die Silhouette einer Gestalt stand, mit dem Rücken zu ihm, vor Elphid. Fragend schaute Elphid sie sich an, bis eine andere fremde Gestalt hinter ihm auftauchte.
»Die Rettung ist endlich da, kleiner Hüpfer«, sagte die Stimme eines Mädchens. Als Elphid sich umdrehte, sah er die Gestalt. Eine junge Sterbliche, in seinem Alter, mit leicht lila Haaren und niedlichem Gesicht stand dort. Elphid hätte nicht gedacht, wie erfrischend es war ein Gesicht, und keine Maske, zu sehen. Sie trug einen Mantel, aber nicht denselben wie die Wachen. Trotzdem trug sie die gleiche Waffe wie sie.
»Die Rettung?«, fragte Elphid völlig verwirrt, die Worte zitterten aus seinem Mund. Das Mädchen griff nach seinem Arm und zog ihn hoch.
»Fragen bitte nach der Flucht, dann haben wir genug Zeit. Iglias hat uns geschickt, und jetzt zack zack, Dask kann sie nicht ewig ablenken«, erklärte das Mädchen. Sie sprach sehr schnell.
Iglias?, dachte Elphid. Wenn sie Iglias kannten, dann konnte Elphid ihnen vertrauen. Also wehrte er sich nicht und ließ sich von der Unbekannten wegziehen. Wahrscheinlich hätte er sich nicht einmal wehren können, wenn er wollte. Seine Beine waren schwach, seine Arme kontrollierte er kaum noch und vor allem war das Mädchen überraschend stark.

Comments

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert