Der unendliche Schmerz – Kurzgeschichte

Der unendliche Schmerz – Kurzgeschichte

Es war ein überraschend klarer Tag in Drakos, der Dimension der Drachen. Üblicherweise legte sich ein sehr dichter Rauch über die Welt, verursacht durch die roten und grauen Drachen. Heute aber konnte man sehr weit sehen. Und nicht nur das. Man konnte vielleicht auch ohne Schutzmaske nach draußen. Die Bewohner dieser Welt waren nämlich auf diese Masken angewiesen, denn ohne sie war das Atmen in dem ganzen Rauch so gut wie unmöglich.
Silvas aber verließ sich nicht darauf. Sie setzte trotzdem ihre Atemmaske auf, die sich selbst modifiziert hatte. Sie war nicht so klumpig wie die normalen, die von den Dimensionswachen und der Drachengöttin ausgegeben wurden. Silvas war da lieber auf sich selber angewiesen, und gab der Ausrüstung, mit der sie täglich herumlief, etwas Persönlichkeit. Elegant umgab ihre smaragdgrüne Atemmaske ihr herzförmiges Gesicht, während sie ihren waldgrünen Umhang umlegte. Sie setzte ihre Kapuze auf, die nun ihre tief braunen Haaren verdeckte, wobei aber zwei Strähnen noch an ihrem Gesicht herunterliefen. Jetzt fehlte nur noch ihr Rucksack, und sie war bereit für die Reise. Ihr Ziel war der riesige Berg mit dem Namen Panos, das angebliche Zuhause eines mystischen Drachen.
Dieser Drache war eine sagenumwobene Legende in Drakos, die jedes Kind kannte. Sie handelt um eine uralte Kreatur, die den Namen ›der unendliche Schmerz‹ trug. Dieser Drache soll aus der Zeit des ersten Dimensionsgeborenen stammen. Peod hatte angeblich den unendlichen Schmerz selbst großgezogen, bevor er als erster Dimensionsgeborener zum Mythos aufstieg. Und der unendliche Schmerz? Er soll diese Welt, Drakos, mit seinem eigenen Blut und seinen Tränen erschaffen haben.
Ob dieser mystische Drache tatsächlich existierte, war die Frage, die Silvas, seitdem sie ein Kind war, nie losließ. Und so machte sie es zu ihrer Aufgabe, den unendlichen Schmerz zu finden. Heute war dieser Tag. Heute würde sie endlich Panos erklimmen, und die Höhle des Drachen finden.

Auf ihrer Reise gingen ihr viele Gedanken durch den Kopf. Was wollte sie überhaupt tun, wenn sie den unendlichen Schmerz fand? Laut den Geschichten war der unendliche Schmerz kein aggressiver Drache. Daher sollte sie sich wohl keine Sorgen machen, dass ihr etwas zustoßen würde, oder?
Um sie herum betrachtete sie die unzähligen toten Bäume. Wenn sie nicht abgebrannt waren, dann waren sie vollkommen nackt, denn sie konnten nicht überleben durch den ganzen Rauch. Der Boden war trocken, und die Hitze prallte gegen ihren Kopf. Ein klarer Tag bedeutete in Drakos, dass es besonders heiß werden würde.
Immer wenn Silvas auf Reisen ging, erschreckte es sie immer erneut, wie kaputt die Welt um sie herum war. Tote Bäume, harte Böden und ausgetrocknete Flüsse. Die Sterblichen konnten nur überleben, durch die Städte, die sie in die riesigen Berge von Drakos gebaut hatten. Dort hatten sie das Glück, dass es Pflanzen gab, die ohne Sonnenlicht wuchsen. Obwohl von Glück manchmal nicht die Rede sein konnte. Die Bewohner von Drakos waren wenige. Und diejenigen, die nicht in der Stadt der Drachengöttin leben durften, waren oft nur wandelnde Leichen. Selbst in der Regierungsstadt gab es wenig, und sie wurden immer von Drachenangriffen geplagt. Nie aber zerstörten die Drachen die Stadt vollkommen. Die Sterblichen blieben immer gerade so am Leben. Nie durfte ihr Schicksal besiegelt werden.
Falls der unendliche Schmerz diese Welt tatsächlich erschaffen hatte, wieso in diesem Zustand? Eine Kreatur, die solch ein Leben schafft, kann doch nicht gut sein, oder?
Hoffentlich waren die anderen Gerüchte wahr, zumindest einigen von ihnen, dachte sie. Es sollte nicht mehr lange sein, bis ich weit genug oben bin.
Die anderen Mythen, von denen sie redete, waren die der ›lebenden Höhen‹. Angeblich sollte es Höhen des Berges Panos geben, voll mit lebenden Bäumen. Rotes Gras soll es dort geben, was sich völlig von dem grauen Gras unterschied. Es sollte sogar rote Flüsse geben, an denen Pflanzen wuchsen, und Tiere daran tranken. All das soll sich hinter den Wolken verstecken. Manchmal, an besonders klaren Tagen, sollen die Sterblichen diese roten Landschaften des Berges sehen können. Oder zumindest bildeten sie sich diese ein.

Nun war der Moment der Wahrheit gekommen. Die grauen Wolken von Drakos standen ihr bevor. Sie konnte die toten Wälder und trockenen Ebenen hinter sich lassen. Doch kurz bevor sie sich in die Wolke begab, fiel ihr auf, dass sie keinem einzigen Drachen begegnet war.
Die erste Legende, die sich als wahr herausstellt, stellte sie fest. Die anderen Drachen trauten sich nie wirklich an Panos heran. Es machte ihr Hoffnung, dass dies ein Zeichen für die Existenz des unendlichen Schmerzes war. Dennoch machte es ihr auch weiter Angst. Doch was hatte sie zu verlieren in dieser Welt? Es war ihr Lebensziel, diesen mystischen Drachen zu finden. Und wenn es das letzte war, was sie tun würde, dann wäre das in Ordnung. Wenn ihr diese Reise eines gezeigt hatte, dann, dass es sowieso keinen Wert hatte, in dieser Welt zu leben. Und eine Möglichkeit zu flüchten gab es sowieso nicht. Daher ging sie lieber der Frage nach, die sie ihr Leben lang bereits begleitete, als da unten zu verrotten.
Silvas atmete einmal tief durch, und nahm dann den ersten Schritt in die graue Wolke. Ihr Kapuze hatte sie fest aus, und ihre Maske drückte sie an ihr Gesicht.
Hier drin sah man nichts. Nichtmal ihre eigenen Füße sah sie, und so konnte sie nur auf ihr Gefühl vertrauen. Das Gefühl, dass sie weiter nach oben ging.
Einige Schreie erklangen. Schreie von anderen Drachen. Sie drehte sich schnell um, doch konnte nichts erkennen. Zwischendurch leuchtete etwas, weit weg von ihr, hell auf. Speite ein Drache dort Feuer aus? Es war doch noch vorhin alles so ruhig. Wenn all diese Schreie echt waren, mussten sich Dutzende von Drachen in dieser Wolke befinden.
Vorsichtig schritt sie voran, doch nichts stellte sich ihr in den Weg. Doch die Schreie wurden immer lauter.
Dann erklang eine Stimme. Eine Stimme einer Sterblichen. Und diese Stimme kam Silvas bekannt vor, auch wenn sie diese Stimme seit unzähligen Jahren nicht mehr gehört hatte.
»Die Legende des ›unendlichen Schmerzes«, sagte die Stimme. Es war die Stimme ihrer Mutter. Doch wie?
»Der unendliche Schmerz ist ein Drache, der auf der Spitze des Berges Panos lebt. Er soll selbst der Erschaffer dieser Welt sein. Aufgezogen von dem ersten Dimensionsgeborenen«, erzählte die Stimme weiter.
Genauso erzählte sie mir immer diese Geschichte…, dachte Silvas.
Ein Kinderlachen ertönte. War das ihr Kinderlachen?
Silvas fing an, schneller zugehen. Diese Wolke, was auch immer sie war, wurde ihr unheimlich.
Die Geräusche von Flammen ertönten ganz nah von ihr, doch nun schaute sie sich schon gar nicht mehr um. Sie fing beinah an zu rennen. Die Schreie der Drachen wurden lauter, doch jetzt kamen auch Schreie von Menschen dazu. Vor allem die Schreie von Frauen. Und ein Schrei zerbrach ihr beinah erneut das Herz, so wie es damals passierte.
Der Schrei ihrer Mutter ertönte. Die ganze graue Wolke um sie herum erschien plötzlich in einem hellen Leuchten.
Silvas war endlich draußen. Sie atmete schnell und schwitzte wie verrückt. Ihr Herz raste, als sie beinah zusammenbrach. Was im Namen der Dimensionen war das gerade? Sie schaute hinter sich, und sah eine gewöhnliche graue Wolke. Alles andere war still. Keine Schreie von Drachen oder Sterblichen. Kein Feuer mehr. Und auch nicht die Stimme ihrer Mutter…

Vor ihr lagen sie tatsächlich. Die »lebenden Höhen«. Silvas kniete nieder und berührte vorsichtig das rote Gras. Die tief roten Blätter wehten ihr beinah ins Gesicht. Vorsichtig machte sie die ersten Schritte in diesen unbekannten Gebieten. Nur ein wenig weiter lag auch schon der erste richtige Fluss vor ihr. Das beinah blutrote Wasser floss abwärts in die Wolken hinein.
Doch warum geht es nie weiter? Warum liegt eine völlig andere Welt hinter diesen Wolken?, fragte sie sich. Bis plötzlich eine neue Stimme ertönte.
»Eine Sterbliche in den lebenden Höhen?«, fragte sie. Silvas drehte sich panisch um, doch die Stimme schien in ihrem Kopf zu sein.
»Verschwinde… Niemand darf dies hier sehen. Niemand darf mich sehen…«, sagte die Stimme. Sie war tief, und hallte in ihrem Kopf hin und her. Beinah klang sie fast majestätisch, wenn sie nicht so…zerbrochen klingen würde.
»Der unendliche Schmerz?«, fragte Silvas vorsichtig.
Es kam keine Antwort mehr. Nur noch Stille, die von den starken Winden begleitet wurde.
Er will nicht gesehen werden?
Silvas konnte das nicht von ihrem Ziel abbringen. Sie wusste von den anderen Legenden. Von denen, die eher deprimierender war. Diejenigen, die erklärten, wieso dieser Drache ›unendlicher Schmerz‹ genannt wurde.
Sie musste weiter. Silvas wollte nicht, dass diese Legenden auch noch wahr waren. Doch sollten sie wahr sein, dann war dies auch einer der Gründe, warum sie ihm unbedingt begegnen wollte. Vielleicht konnte sie ihm helfen. Sie musste es probieren.

Langsam wurde Silvas der Suche leid. Schon seit Stunden wanderte sie durch die lebenden Höhen, doch sie fand ihn nicht. Glücklicherweise stellte sich auch kein anderer Drache ihr in den Weg, doch es wurde trotzdem ätzend. Die Dunkelheit war längst eingebrochen, und sie überlegte die Nacht über hier draußen zu übernachten. Das war doch das, was sie letztendlich sowieso tun musste, nicht wahr?
Doch dann ertönte ein lautes Jaulen. Es halte durch die Ebene. Es klang schmerzvoll. So schmerzvoll, dass es Silvas fast selbst weh tat. Schnell schaute sie in Richtung der Bergspitze, den von dort aus, kam der Schrei. Und tatsächlich beobachtete sie die Umrisse einer riesigen Kreatur. Ihre weiße Haut leuchtete im Mondschein und offenbarte sie.
Es war ein riesiger Drache. Er schlängelte sich durch die Luft, und war unendliche Meter lang. Doch, er flog nicht hoch genug über der Bergspitze.
Blut floss den Berg hinunter. Unsagbare Massen an Blut fingen an, den Berg herunterzukommen, wie Lava bei einem Vulkan.
Schnell suchte sich Silvas einen Unterschlupf in einer kleinen Höhle im Berg.
Das war er…, dachte sie. Das war der unendliche Schmerz. Und scheinbar war alles wahr, was man über ihn sagte.
Silvas zerbrach das Herz. Sie hoffte zwar immer darauf, dass die Legende um seine Existenz wahr war, doch bitte nicht der Rest darum.
Laut der Legende war es so, dass der unendliche Schmerz seinen Namen daher hatte, weil er den Schmerz der gesamten Welt spürte. Das Leid jedes Sterblichen war auch sein Leid. Seine Existenz war ein einziges Trauerspiel. Als sein Ei damals gefunden wurde, von dem ersten Dimensionsgeborenen, so soll auch die Naturgewalt Angst höchstpersönlich dabei gewesen sein.
All diese Texte waren natürlich Ketzerei unter der Herrschaft des allmächtigen Königs der Dimensionen. Silvas glaubte aber an die Texte des ersten Dimensionsgeborenen. Sie glaubte auch an die Existenz der wahren Götter, Hoffnung und Angst.
Der unendliche Schmerz war also wirklich ein Kind von Angst? Ein Wesen, das jeden Schmerz spürte?
Und deshalb stürzte er sich immer in die Spitze der Berge…, erkannte Silvas. Er versucht, sein eigenes Elend zu beenden.
Das Blut floss neben ihr her, und überflutete schnell die rote Landschaft. Und so schnell passierte es, dass sie das rote Gras, die Bäume und die blutroten Flüsse anekelten. Noch vor ein paar Stunden bewunderte sie diese. Nun aber erschienen sie in einem anderen Licht.
Alles hier war in seinem Blut getränkt.
Silvas musste ihm helfen. Doch konnte sie das überhaupt? War sie, eine gewöhnliche Sterbliche, in der Lage, dem Kind eines Gottes, einer Naturgewalt, zu helfen?
Es gab keinen anderen Weg. Sie musste es versuchen.
Und falls sie bei dem Versuch starb, war es zumindest eine Seele weniger, die mit ihrer Existenz ihm nur noch mehr Leid zufügte.

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