Beziehungswaise

Beziehungswaise

Es war eine kalte Winternacht, als die Waise mich besuchte. Schon länger war es her, dass ich mit ihrer Präsenz begrüßt wurde, weshalb ich mich selbstverständlich freute. Ein wenig gute Gesellschaft einer so jungen Seele zu dieser einsamen Jahreszeit, konnte nur etwas Gutes sein. Jener Winter war ein besonders harter, wodurch die Menschen ihre heimischen vier Wände selten verließen. Die Waise hatte sich trotzdem auf den Weg gemacht. Man kann sich vorstellen, wie geehrt ich mich gefühlt habe.
Ich öffnete ihr die Tür und lud sie schnell in die Wärme meines Heims ein. Sie schüttelte sich die Kälte ab, doch sofort merkte ich, dass etwas sie bedrückte. Das war durchaus seltsam, denn die Waise war immer eine sehr lebensfrohe und fröhliche Seele. In dieser Nacht wirkte sie aber besorgt. Unverzüglich führte ich sie in mein Wohnzimmer, setzte einen heißen Tee auf und setzte mich zu ihr. Als ich in ihre Augen blickte, merkte ich den Unterschied zu ihrer sonstigen Gestalt sofort. Ihre sonst so hellblauen Augen wirkten gräulich und trüb. Sie saß verschlossen und erniedrigt, anstatt offen und gesellig.
»Was bedrückt dich, Waise?«, fragte ich sie selbstverständlich. Sie zögerte einen Moment, doch fand letztendlich die Worte, die sie suchte.
»Oh Weise, mein alter Freund«, sprach sie mit unsicherer Stimme. »Diese Jahreszeit ist eine durchaus traurige. Kannst du es mir verübeln, dass ich niedergeschlagener wirke als sonst?«
»Selbstverständlich nicht!«, antwortete ich ihr. »Doch du erscheinst heute im vollkommenen Kontrast. Das kann doch nicht nur die Kälte und Dunkelheit des Winters sein.«
»Manchmal kennst du mich zu gut«, gab sie zu. »Deinen Namen hast du dir ja auch verdient.«
Ich nickte zustimmend. »Also sag mir, was dich sonst bedrückt. Ich mache mir doch nur Sorgen.«
»Es ist das einsam sein zu dieser Jahreszeit«, offenbarte mir die Waise. »Das macht mich jedes Jahr wieder fertig, und nie ändert sich was.«
»Aber Waise!«, rief ich aus. »Du hast doch unzählige Freunde hier. Schau dir alleine an mit wem du heute den Abend verbringst. Und auch Familie…«
»Das ist nicht das, was ich meine, und das weißt du auch, Weise«, unterbrach mich das Mädchen.
Ich schwieg daraufhin einige Momente. Sie hatte recht, denn ich wusste doch, was sie meinte. Gleichzeitig wusste ich aber auch, dass das nicht alles sein sollte, was sie suchte. Also stand ich aus meinem Sessel auf und ging zu einem meiner Bücherregale. Da stand ein Buch, das ich schon seit einiger Zeit nicht mehr von seinem Platz bewegt hatte, doch es war genau das richtige.
»Habe ich dir mal die Geschichten von Emilia und Sami erzählt?«, fragte ich sie, als ich den Staub vom Buch pustete.
»Nicht du, aber jemand anderes einmal. Eine Geschichte von einem Paar, oder nicht? Was soll mir denn solch eine romantische Geschichte jetzt bringen?«, fragte mich die Waise, ein wenig verwirrt.
»Du scheinst eine Geschichte von ihnen zu kennen. Magst du mir von deiner Geschichte erzählen?«
»Zur Abwechslung mal einen Rollentausch, meinst du«, sagte sie mit einem Lächeln und nahm einen Schluck ihres Tees.
»Manchmal kann solch ein Abend auch mich mal überraschen«, sagte ich, schmunzelte und legte das Buch fürs Erste auf meinen Schoß.
»Die Geschichte von Emilia und Sami ist, soweit ich es weiß, eine Geschichte zwischen zwei Liebenden in einer Silvesternacht…«

*

»Ein paar ungeduldige Jungs da draußen müssen wohl immer vor Mitternacht böllern!«, beschwerte sich Emilia, als sie aus dem Fenster schaute. Die dunkle Silvesternacht wird bereits jetzt von einigen Feuerwerken erhellt, und der Schnee leuchtet in den verschiedensten Farben auf.
»Du bist nur neidisch, weil wir dieses Jahr kein Feuerwerk da haben«, sagte Sami und kicherte ein wenig, als er zu seiner Frau ging, den Arm um sie legte und ebenfalls aus dem Fenster blickte.
»Ich verstehe auch nicht, warum du das dieses Jahr nicht machen wolltest. Es macht doch immer so viel Spaß Dinge in die Luft zu sprengen, und nur an diesem Tag habe ich eine Entschuldigung dafür!«, sagte sie und versuchte, mit ihrem Blick, Sami einen kleinen Vorwurf zu machen.
Sami musste nur lächeln. Ja, er wusste, dass Emilia immer etwas für das Feuerwerk übrig hatte, auch wenn er diese Faszination nicht so wirklich teilen konnte. Dieses Jahr hatte er daher einen kleinen Plan, der für sie beide perfekt wäre. Er erinnerte sich an diese eine Stelle, die er vor vielen Jahren in dem Ort, in dem sie lebten, entdeckt hatte. Ein kleines Feld, leicht Abseits von der Stadt doch gleichzeitig irgendwie mittendrin. Von dort aus musste man das Feuerwerk der ganzen Stadt sehen können! Ein weiterer magischer Moment, den er teilen könnte, mit der Frau, die er liebte.
»Ich habe dir doch gesagt, dass ich was vorbereitet habe. Ein wenig Vertrauen wäre angebracht!«, verteidigte sich Sami.
»Dann lass uns bitte los, ich will nicht mehr warten!«, sagte sie sehr ungeduldig.
Diese kindliche Ungeduld, die Emilia immer zu Weihnachten und Silvester an den Tag legte, war eines dieser Dinge, die er so an ihr liebte. Irgendwie hatte sie ihr inneres Kind nie verloren.
Der Weg war zum Feld war nicht lang, doch Emilia hatte die Gelegenheit nicht ungenutzt gelassen laut, Weihnachtslieder im Auto zu singen. Es war jedes Jahr dasselbe. Die Woche nach Weihnachten liefen die Lieder immer noch den ganzen Tag. Sie meinte immer, dass sie diese Woche noch als Abschied von der Weihnachtszeit brauchte. Sami genoss wiederum einfach nur die Fröhlichkeit seiner Frau.
Auf dem Feld angekommen, musste Sami schon nach kurzer Zeit seine Jacke an Emilia abgeben. Sie war eine Frostbeule, und das wusste er auch. Deshalb hatte er sich extra wärmer angezogen. So stellte Sami noch den Rucksack, in dem eine kleine Überraschung versteckt war, ab, und schaute sich um.
»Es ist wirklich schön hier«, sagte Emilia mit leiser Stimme, als sie den Horizont betrachtete.
»Ich hoffe es wird so schön, wie ich es mir vorgestellt habe«, gab Sami zu, mit einer leichten, versteckten Unsicherheit. Doch Emilia erstickte die Sorgen, bevor sie sich überhaupt verbreiten konnten.
»Das wird es sicherlich, mach dir keine Gedanken«, sagte sie und kuschelte sich an Sami an.
Es war eine simple Methode, doch sie funktionierte schon seit Jahren.
So standen sie, zusammen in der Kälte, doch kalt war es sicherlich nicht. Ein paar Minuten hielten sie so aus, bis dann die Uhr Mitternacht schlug und das Feuerwerk begann. Hunderte von Farben explodierten am Horizont. Egal wohin man schaute, irgendwo knallte es und das neue Jahr wurde begrüßt. Emilia und Sami beobachteten das Geschehen zusammen, Arm in Arm.
Zum Schluss, als das Wunderwerk ein wenig zur Ruhe gekommen war, griff Sami noch nach seinem Rucksack. Emilia beobachtete ihn mit neugierig, bis er dann ein paar Raketen hervorholte.
»Wir dürfen doch noch böllern?«, rief Emilia vor Freude und sprang leicht in die Luft.
»Du liebst es doch so sehr. Wer bin also ich, dass ich das dieses Jahr verhindern würde?«
So konnten auch die Beiden noch das neue Jahr laut begrüßen, und hatten somit wahrscheinlich eine neue Neujahrstradition geboren…

*

»Und das ist die Geschichte von Emilia und Sami«, beendete die Waise ihre Erzählung. Als sie fertig war, trank sie einen Schluck vom Tee, aber blickte danach bedrückt nach unten.
Was dieser Blick bedeutete, war nur allzu klar. Die Waise sehnte sich in diesen kalten Tagen nach der Wärme einer solchen Beziehung. Nun darüber zu reden, raubte ihr die Fröhlichkeit nur umso mehr.
»Eine schöne Version von ihrer Geschichte, die du da hast«, sagte ich zu ihr und klappte das Buch vor mir auf. »Doch es ist bei weitem nicht die Einzige. Viele merken sich diese Version, die du kennst, weil sie so idyllisch und perfekt wirkt. Doch leider machen uns perfekte Dinge oft traurig. Dabei ist die Geschichte von Emilia und Sami lange nicht perfekt.«
Die Waise schaute inzwischen verwirrt von ihrem Tee hoch. Vielleicht schien sie nicht zu verstehen, wie solch eine Geschichte nicht perfekt sein konnte.
»Am besten erzähle ich es dir. Eine andere Geschichte von Emilia und Sami.

*

Heute war Silvester, doch in der Stimmung das neue Jahr mit einem Lächeln zu begrüßen, war Emilia nicht. Diese Nacht konnte nur die pure Hölle für sie werden. Sie befand sich auf einer Neujahrsfeier ihrer Freundesgruppe, doch geredet hatte sie bisher kaum. Von draußen prasselte der Regen gegen die Fensterscheiben, der Wind schleuderte die Äste an den Bäumen durcheinander. Nur noch ein wenig Zeit bis Mitternacht, und das Wetter schien nicht besser zu werden.
Sami wird sich darüber freuen, dachte sie bitter, als sie die leeren Straßen vom Fenster aus beobachtete. Das ganze Feuerwerk war nie was für ihn.
Vielleicht gab das Jahr, auf eine eigene fiese Art, Sami mit diesem Wetter recht. Vielleicht war Silvester nicht dafür bestimmt, ein buntes Feuerwerk in die Luft zu schießen. Vielleicht hatte Sami ja immer recht gehabt…
Emilia traute sich, ihren Blick in Richtung der Feier zu wenden. Dort standen sie alle, unterhielten sich, tranken, lachten und waren glücklich. Sie hatte wohl jeden schon genug vergrault, damit sie in Ruhe gelassen werden würde. Jeder von ihnen hatte versucht sie aufzuheitern, sogar Sami. Er war aber der Letzte, von dem sie etwas hören wollte. So glücklich wie er da steht, keine Sorge in der Welt, warf sie ihm in ihren Gedanken vor. Das wievielte Getränk war das schon von ihm heute? Sie hatte nicht mitgezählt, aber scheinbar ließ er es sich sehr gut gehen heute. Wenigstens kann das einer von uns.

Sami hasste jede Sekunde dieser Nacht. Eigentlich wollte er gar nicht mitkommen, doch er wurde letztendlich doch überredet. ›Die Trennung liegt doch schon voll lange zurück‹, hatten sie gesagt.
Ein Monat und 13 Tage würde ich nicht als lange bezeichnen, dachte Sami verbittert. Es war ihm klar, dass er den Abend nicht gut überstehen konnte, doch die ganzen Getränke halfen ihm. Alkohol konnte vielleicht nicht die Lösung sein, doch nachdem Emilia ihn am Anfang so hart abgewiesen hatte, als er nur sicherstellen wollte, ob es ihr gut geht, konnte er sich nicht mehr helfen. Das wievielte Glas war das jetzt schon? Er konnte sich gar nicht mehr daran erinnern. Die Musik wurde immer undeutlicher, so wie die Gespräche um ihn herum. Sein Blick verschwamm, sein Magen fühlte sich gar nicht gut an.
»Toilette!«, rief er noch schnell, bevor er das Zimmer rasant verließ.

»Er hat es sich wohl zu gut gehen lassen heute«, sagte Emilia zu einer Freundin in einem verbitterten Ton. Ihre Stimmung schien sich nicht wirklich zu bessern heute.
»Kotzend über dem Klo zu hängen ist das mindeste, was er verdient für sein Verhalten«, erwiderte die Freundin und lachte vor Schadensfreude. Emilia war aber nicht zum Lachen zumute. Das war auch nicht das, was sie wollte. Es sollte ihm doch nicht wirklich schlecht gehen. Lag es an ihr, dass er heute übertrieben hatte? Wahrscheinlich schon. Gut fühlte sich das aber auf keinen Fall an. Für ihre Freundin war es vielleicht leicht, darüber zu lachen, aber Emilia hasste Sami ja nicht. Das war ja leider das Problem an der ganzen Sache; trotz ihrer Trennung.
»Entschuldige mich kurz«, sagte Emilia und verließ sofort den Raum. Sie wollte sich nichts anmerken lassen, doch sie wollte nach Sami schauen. Schwer zu finden war er nicht, denn er hing immer noch über der Toilette. Es war ein trauriger Anblick, der Emilia das Herz zerriss. Vielleicht wollte sie ihn nicht mehr sehen, aber das war nur so, weil es so schmerzte, ihn zu sehen.
»Es tut mir leid«, sagte Sami leise. Seine Stimme war schwach, seine Haare chaotisch und ein wenig Speichel hing ihm am Mund. Er war sichtlich einfach nur noch erschöpft.
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, antwortete Emilia so sanft es ging, doch es fiel ihr schwer. Konnte sie das hier durchstehen?
»Doch, muss ich. Ich bin erbärmlich. Ich hätte mich nicht so verhalten dürfen.«
Emilia schwieg, denn sie konnte keine Worte finden. Ja, es war erbärmlich, doch konnte sie ihn verurteilen? Sie selbst saß den ganzen Abend alleine und ignorierte jeden, schickte andere sogar böse weg. Vielleicht hatte er nur versucht, das Beste aus einer schlechten Lage zu machen?
»Es gibt nichts zu entschuldigen«, sagte sie, ihre Stimme nun ein wenig gefestigter. »Es war situationsbedingt. Du hast mich heute Abend gesehen und musstest dich deshalb betrinken.«
Was hatte sie da gerade gesagt? Emilia, du Idiotin!, ermahnte sie sich selbst. Wie konnte sie so etwas sagen? Das war sicherlich jetzt nicht der Moment für solch erhabene Sprüche. Ihm geht es grausam, und du drückst ihm jetzt so etwas rein? Kein Mitgefühl oder sonst etwas in die Art?
Sami schwieg einfach nur. Was sollte er auch darauf antworten? Wie sollte sie weitermachen?
Also entschied sie gar nichts zu machen und still die Toilette zu verlassen, mit einem schlechten Gewissen. Sie wollte ihn nicht verletzten, das war nie ihre Absicht. Leider hatte sie letztendlich doch wieder etwas Dummes gesagt…

»Was sollte das denn?«, fragte sich Sami, ziemlich benommen. Seine Stimme lallte, doch für ihn selbst sollte es reichen. »Sie kommt zum Klo, ich entschuldige mich und sie drückt mir einen Spruch rein?« .
Wofür wollte er sich überhaupt entschuldigen, fragte er sich im Nachhinein. Sie interessierte sich offensichtlich gar nicht mehr für ihn, machte sich auch keine Sorgen mehr. Während er noch am Anfang der Feier auf sie zugegangen war und sie ihn einfach weggeschickt hatte.
Ich bin ihr egal, dachte er. Diese Erkenntnis traf ihn erneut, an derselben Stelle, die er heute mit Alkohol betäuben wollte. Wie konnte man jemandem so schnell egal werden?
Sami übergab sich erneut, verbrachte den Rest der Feier über der Toilette, bis er irgendwann die Stärke fand, zu gehen. Er verabschiedete sich bei den nötigsten, und mied jeden Blickkontakt zu Emilia.
Elend warf er sich zu Hause in sein Bett, wollte am liebsten nie wieder aufwachen.

*

»Die perfekte Beziehung von Emilia und Sami ist keine Garantie«, sagte ich und beendete diese Geschichte, mit leiser, beinah trauriger Stimme. »Sowie es bei keiner Beziehung der Fall ist.«
»Aber, die Beiden gingen jetzt traurig und mit schlechtem Gewissen schlafen und das war es?«, fragte die Waise ungläubig. »Sie haben sich doch weiterhin um den Anderen gesorgt? Wie konnte das so enden?«
»Wenn Beziehungen zu Ende gehen, sind wir Menschen meistens unkontrollierbar. Unsere Gefühle bekommen die Oberhand und wir sagen schnell Dinge, die wir nicht so meinen, und tun oft etwas, was wir dann bereuen.«
»Toll, also ist man schrecklich dran mit, und ohne Beziehung?«, fragte sie und war sichtlich bedrückt. Ich hatte so etwas bereits befürchtet. Mir fehlten die Worte, also tat ich das, was ich am besten konnte. Ich erzählte eine weitere Geschichte

*

Der kalte Wind wehte durch seine kurzen braunen Haare, als er sich auf diesem Feld wiederfand, welches er vor einiger Zeit in der Nähe gefunden hatte. Es war leicht erhöht, wodurch er einen wunderschönen freien Blick um sich herum genießen konnte. Hinter ihm erstreckte sich ein kleines Waldstück, und vor ihm die Stadt, in der er sein ganzes Leben bereits verbracht hatte. Einige waren scheinbar bereits ungeduldig und zündeten die ersten Feuerwerkskörper. Für Sami war es eine mutige Entscheidung, wie er fand, Silvester alleine zu verbringen. Ein wenig Angst hatte er schon gehabt, da solch ein Druck auf diesem Tag lag, doch jetzt, wo er hier war, ein paar Minuten vor dem neuen Jahr, fühlte er sich frei.
Wer hätte gedacht, dass alleine Silvester zu feiern so beruhigend sein kann?, dachte er sich selbst. Es wirkte wie ein belohnender Abschluss für das Jahr. Nach den ganzen turbulenten Monaten, den stressigen persönlichen Dramen und einer aufgewühlten Gefühlswelt, war diese Nacht wie eine sanfte Umarmung. Eine Bestätigung, dass das nächste Jahr ruhiger und gesammelter werden würde. Ein ereignisreiches Jahr sollte ihm reichen. Klar würde er alle Personen die er kennengelernt hatte, und auch wieder loslassen musste, im Herzen behalten. Doch dieser, für andere einsame, für Sami ruhige Anfang in das neue Jahr, sollte symbolisch wirken. Er ginge alleine in ein neues Kapitel, mit einem frischen Kopf.
Sei immer erst zufrieden mit dir selbst, erinnerte er sich. Das waren die Worte seiner Mutter. Hatte er das vielleicht endlich erreicht? Nein, sicherlich nicht. Doch er war auf einem guten Weg.
Das Feuerwerk um ihn herum brach los. Dutzende Explosionen füllten sein Sichtfeld. Egal, in welche Himmelsrichtung er schaute, ein lauter Knall und bunte Farben begrüßte ihn, und das neue Jahr. Sie verscheuchten die Sorgen. Dies würde der Anfang von etwas neuem sein. Dieses Jahr, fürs Erste, alleine, aber dafür stark.
Doch vollkommen allein war er gar nicht. Er hatte Freunde und Menschen, die ihm wichtig waren. Sie waren gerade nur alle woanders und begrüßten das Jahr auf ihre Art. Aber nur weil sie nicht hier waren, bedeutete das nicht, dass er sie vergessen musste heute.
So wartete er noch einige Zeit, bis er fertig war, dieses Neujahr zu begrüßen und den Moment zu genießen. Danach machte er sich wieder auf, sortierte die wilden Gedanken in seinem Kopf ein wenig, die ihm einfielen, als er über seine Idee nachdachte. Ein großes Gefühl von Dankbarkeit kam ihn ihm auf, für all seine Freunde. Nun musste er sie nur organisiere und genau das tat er.
Als er Zuhause ankam, entzündete er eine Kerze auf seinem Schreibtisch, legte seine Lieblingsplatte auf, goss sich einen Tee auf. Danach setzte er sich und verfasste ein paar Nachrichten für seine engsten Bekannten und Freunde. Vielleicht mag es erst wie eine merkwürdige Idee wirken, doch Sami empfand seinen Gedanken als wunderschön. Er verpasste zu oft die Gelegenheit den Menschen, die ihm wichtig waren, zu danken. Zu so einem neuen Jahr, wirkte solch eine neue Art ziemlich passend, und es machte ihm furchtbar Spaß die, Nachrichten zu schreiben. Er konnte so ein paar Seelen den Neuanfang eines Jahres versüßen, seine Dankbarkeit ausdrücken und er merkte auch, wie er sich ein Stück weit noch mehr selbst fand in diesen Texten.

Sami verbrachte die restliche Nacht glücklich und fiel so wunderbar ins Bett wie lange nicht mehr. In dieser Geschichte fehlte Emilia. Sie feierte Silvester in einem anderen Teil der Stadt mit ihren Freunden. Dies lag nicht daran, dass Sami und Emilia getrennt waren, auch nicht daran, dass sie einfach nur Freunde waren, aber nicht zusammen feierten. Emilia und Sami kannten sich einfach noch nicht. Und obwohl Sami, und auch Emilia, ihren Partner fürs Leben noch nicht kannten, lebten sie glücklich ihr Leben.

*

»So endet die andere Geschichte von Emilia und Sami«, sagte ich und klappte das Buch zu. Mein Tee war inzwischen kalt geworden, doch das machte nichts. Als ich zur Teetasse der Waisen schaute, fand ich keinen Tee mehr vor. Sie schien die Geschichtsstunde genossen zu haben, was auch ihr Blick ein wenig verriet.
»Mir war nicht klar, dass diese Geschichte so viele unterschiedliche Versionen hat«, gab sie zu.
»Das ist das Wunderbare an Emilia und Sami. Sie sind nicht wirklich bemerkenswerte Persönlichkeiten, sondern einfach Menschen wie du und ich. Und Menschen wie du und ich können so viele verschiedene Leben leben. Jede von ihnen hat Höhen und Tiefen. Was aber viel wichtiger bei ihrer Geschichte ist, sind ihre verschiedenen Variationen ihrer Beziehung.«
»Und hier habe ich gesessen und dachte, dass ich die Geschichte bereits kenne…«
»Dabei kanntest du nur eine Version ihrer Beziehung. Das, obwohl es so viele gab. Jeder wird dir eine andere Geschichte erzählen, doch nur weil du eine besonders oft hörst, ist es nicht die Richtige.«
Sie zögerte einen Moment und wirkte in Gedanken vertieft, bis sie die nächsten Worte ergriff.
»Du musst wirklich aus allem eine Lehrstunde machen, nicht wahr?«, fragte sie mit einem Grinsen auf dem Gesicht.
Auch ich konnte mein Lachen nicht unterdrücken, denn es erfreute mich, dass sie meine Lektion verstanden hatte. Ebenso ermunterte es mich, dass sie mich doch so gut kannte. »Es ist das wofür ich bekannt bin, mein Kindchen. Es ist ebenfalls das, wofür viele hierherkommen. Du doch auch, oder etwa nicht?«, fragte ich so, wobei ich dachte, dass ich die Antwort kennen musste. So war es immer. Immer wieder kam ein Freund, eine Freundin, und sehnte sich letztendlich nach weisen Worten. Die Waise verblüffte mich doch mit ihrer Antwort.
»Eigentlich nicht«, sagte sie. »Ich brauchte Gesellschaft in dieser einsamen Nacht. Ich weiß, dass auch du dich manchmal alleine fühlst, hier in deinem Heim. Warum sollten dann zwei alleine Zuhause sein, wenn sie auch gemeinsam einsam sein konnten.«
Die Waise verschlug mir die Worte, was nicht häufig passierte. Auch wenn ich es genoss meine Weisheiten zu teilen, so war es schön zu hören, dass auch meine Anwesenheit genügt hätte.
»Manchmal, liebe Waise, überraschst du mich. Für dein junges Alter, weißt du doch eine Menge.«
»Ich habe viel Zeit, mit dem Besten verbracht, der mir so etwas beibringen konnte«, sagte sie und blickte zum Kaminfeuer. So verweilten wir, in stiller Gesellschaft. Es war ein gelungenes Ende für einen lehrreichen Abend.

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