Verlassen – Kurzgeschichte

Verlassen – Kurzgeschichte

Verlassen

Vorwort

Tatsächlich scheint es so, als ob ich ein massives Problem damit habe, einen Anfang zu finden. Sei es jetzt eine Aufgabe, ein neuer Text, eine neue Freundschaft oder ein neuer Job. Nichtsdestotrotz fange ich sehr schnell damit an, mich dann an dieses neue zu binden. Ich habe nichts gegen Veränderung, nein, ganz im Gegenteil. Das Einzige, gegen das ich etwas habe, ist, dass etwas aus meinem Leben verschwindet.

Auf dem Weg zum Ende

Heute ist es regnerisch. Eigentlich unüblich für den Juni, denn klar gibt es Regentage im Juni, vor allem Sommergewitter sind ein häufiges Ereignis, was auch sehr romantisiert wird, von der Jugend, doch dieser Regen fühlt sich bedrückend an. Ein Wetter, überhaupt nicht passend für die heutige Veranstaltung. Oh ja, vielleicht hätte ich es erwähnen sollen, heute ist die Zeugnisverleihung meiner Stufe. Ich sitze im Auto, mit schwarzer Jeans und dunkelblauem Hemd, viel förmlicher als sonst, und bereite mich dafür vor, das Zeugnis in die Hand zu bekommen, für das ich 12, naja, 8, bzw. 2 Jahre hart gearbeitet habe. „Hart gearbeitet“ ist auch eine Übertreibung. Meine Leistungen waren mittelmäßig, da ich entweder keinen Bock hatte oder einfach zu sehr überfordert war mit meinem restlichen Leben, dass ich auch einfach keinerlei Energie aufbringen konnte. Trotz all der Scheiße habe ich mich durchgeboxt und bekommen dann gleich einen Zettel in die Hand gereicht, welcher komplett über mein ganzes Leben entscheiden kann, also nichts Großes.

Trotz der großen Bedeutung ist dies das erste Mal, an das ich mich zumindest erinnern kann, dass ich mich freue, dass etwas aus meinem Leben weicht. Normalerweise halte ich gerne an wirklich allem fest in meinem Leben, auch wenn es vollkommen scheiße ist, denn ich kriege einfach furchtbare Angst davor, dass etwas verschwindet. Aber wenn es um die Schule geht? Endlich ist diese Kacke weg, sage ich! Vielleicht kommt es daher, dass ich die Schule am allermeisten dafür verantwortlich mache für all die Probleme, Trauma und Langzeitschäden, die ich habe. Klar kann ich Personen ausmachen, die viel mehr Schaden angerichtet haben als das Gebäude selbst, doch diese Menschen hätte ich ja nie kennengelernt, gäbe es die Schule nicht. Aus dieser simplen Gedankenkette schließt sich also: „Scheiß auf die Schule“.

Leider endet so die Gedankenkette nicht. Denn nun stellt sich mein Gehirn auf das wunderbare Thema des Verlassens ein. Und wenn ich eines gelernt habe, dann dass mein Gehirn kein Fan von mir ist. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass es mich durch und durch nicht leiden kann, doch wir scheinen auf alle Ewigkeit miteinander verbunden zu sein. „Bis-der-Tod-uns-scheidet-mäßig“.

Bevor ich aber in eine vollkommen depressive Phase verfallen kann, werde ich aus dem Trance geweckt

Der Ball

Es tut mir wirklich unfassbar Leid, dass ich gerade komplett abgewichen bin vom Thema. Du bist hier nicht, um darüber zu lesen, dass ich ausnahmsweise glücklich darüber bin, dass etwas auf meinem Leben weicht. Du bist hie, damit ich dir erzählen kann, dass ich normalerweise extreme Angst davor habe, dass etwas mich verlässt. Und nur weil du jetzt meinst, dass du nicht freiwillig deshalb hier bist, das meinte ich auch nicht. Ich, der Erzähler, habe dich als Leser erschaffen mit diesem Text, damit ich irgendwen habe bei dem ich den Scheiß auskotzen kann. 

Warum ich grade überhaupt Zeit habe diese Sachen dir zu erzählen, wenn ich vorhin ganz klar unterbrochen wurde, weil das Auto angehalten hat, was darauf schließen lässt, dass ich das hier in Echt-Zeit erzähle? Ganz einfach, ich bin grade auf dem Abschlussball, vor dem ich sowieso scheiße Angst hatte, dass er kacke wird, und „Überraschung“, er ist kacke. Ich habe mich irgendwo draußen hingesetzt und verstecke mich grade vor allen. Und so sitze ich hier, um 1 Uhr Nachts, draußen, unter dem Licht verschmutzten Sternenhimmel, an meinem Handy und wandle irgendwelche Gefühle in einen Text um. All das während alle meine Freunde, und auch die Menschen, die ich nicht leiden kann, genau das machen, was man an diesem Abend machen soll. Sie feiern, sie tanzen, springen bekloppt stundenlang auf einer Stelle zu einem alten Popsong umzingelt von ganz vielen anderen schwitzigen Körpern. Und ich sitze hier und habe eine komplette Krise, weil ich denke, dass ich etwas verpasse, dass mit mir etwas falsch ist und dass es keinen einzigen von meinen Freunden interessiert, der da drinnen so toll feiert. Versichert wurde mir vor diesem Ball, dass es nicht Kacke wird. Versichert haben sie mir, dass sie sich um mich kümmern würden, dass sie alles tun würden, damit genau das nicht passiert, was gerade passiert. Egal bin ich denen. Stundenlang kann mir versichert werden, dass ich ihnen wichtig bin. Dass sie mich nie verlassen würden. Dass sie immer für mich da sind. Doch wo sind sie jetzt? Vergessen bin ich. Ersetzt durch andere, weil ich ersetzbar bin. Das ist alles, was ich bin. Ich bin der nette Typ, der jedem gerne hilft, doch sobald ich es bin, der tatsächlich Hilfe braucht, weil er eine komplette Krise hat, dann ist niemand da. Ich bin die 2. Wahl, denn am Ende ist die Wahrheit, dass es nicht lustig ist, mit mir was zu machen. Ich bin unlustig und es macht niemandem Spaß mich dabei zuhaben. Die sind da drinnen wahrscheinlich alle froh, dass ich hier draußen bin und sie nicht störe. Sobald wir mit diesem Abend fertig sind, werde ich die auch alle nie wieder sehen, weil sie alle mich wie Ballast fallen lassen werden. 

Die Rettung

Und so sitze ich da, draußen, weinend und habe einen kompletten Nervenzusammenbruch während ich die gedämpfte, aber trotzdem noch laute Musik von drinnen höre. Auf einmal spüre ich eine Hand auf meiner Schulter und ein sanftes „Alles gut bei dir?“ 
‚Alles gut bei dir?‘ Was eine Frage. Weinend sitze ich da auf dem Abschlussball alleine draußen. „Ja klar, weinend alleine draußen zu sitzen ist normalerweise ein Zeichen davon, dass es einem gut geht“, erwidere ich.
„War die Lage da drinnen zu viel? Brauchst du einfach grade Zeit für dich?“, fragt die Stimme. 
„Ja, ich brauche nur Zeit für mich“, lüge ich ganz einfach. Was ich eigentlich möchte ist, dass ich nicht alleine da drinnen bin. Ich möchte ja meinen Abschluss feiern, nur habe ich Angst alleine zu sein bei den ganzen Menschen. Aber das werde ich jetzt nicht einfach sagen. Warum? Gute Frage. Vielleicht möchte ich, dass mein Problem verstanden wird, ohne dass ich es sagen muss. Vielleicht will ich auch unterbewusst hier elendig sitzen. 
„Falls ich da drinnen nicht genug mich um dich gekümmert habe, tut es mir leid. Ich hätte dich da nicht alleine stehen lassen dürfen.“ 
Ich bin überrascht, dass die Konversation nicht zu Ende war nach meiner relativ kalten Lüge.
„Ist schon in Ordnung, es war ja klar, dass der Abend so enden wird.“
Ja, scheinbar möchte ich einfach weiterhin alleine hier draußen sitzen. Ich könnte ihr sagen, dass das genau das Problem war, dass sie mich alleine gelassen hat. Doch ich will ihr erstens keine Schuldgefühle machen, und zweitens ändert es sowieso nichts. Doch dann nimmt sie plötzlich meine Hand und bringt mich davon aufzustehen.
„Komm schon, wir gehen wieder rein. Du hast doch gesagt, wir müssen dich rum schleifen, und genau das werde ich jetzt tun. Und nochmal lasse ich dich nicht alleine“, sagt sie, während sie mich zu der Tür nach drinnen zieht. Ich zeige keinen Widerstand und sage auch nichts. Innerlich bin ich geschockt davon, dass sie sich noch daran erinnert, was ich vor der Party gesagt habe und dies nun auch einhalten will. Vielleicht hat sie jetzt erst realisiert, wie ernst ich das gemeint habe vor der Party. Dadurch, dass sie sich daran erinnert hat und es jetzt tatsächlich umsetzt, durchzieht mich ein Gefühl von Glücklichkeit und Geborgensein, und es verschwindet auch nicht in dem Moment als wir die Party wieder betreten. Die laute Musik spielt wieder, jetzt nicht mehr gedämpft, sondern mit voller Lautstärke. Ich sehe, wie alle Menschen hier den Spaß ihres Lebens haben. Sie sind am Tanzen, springen, trinken und singen. Ich werde zu unserer Gruppe hingezogen, die mich mit warmen Worten wieder empfängt.
„Da bist du ja wieder!“ Und „Wir haben uns schon Sorgen gemacht!“, oder „Wir haben dich schon vermisst!“.  Diese Menschen, meine Freunde, wollen mich tatsächlich hier haben. Und so vergeht der restliche Abend. Ich traue mich tatsächlich, mit all meinen Freunden zu feiern und feiere damit den Abschluss eines Lebenskapitels und einen positiven Anfang für einen neuen Lebensabschnitt, mit Freunden, die sich tatsächlich um mich kümmern.

Die Realität

Klingt doch toll, oder, Leser? Doch vielleicht hast du gemerkt, dass irgendwo etwas nicht stimmen kann. Vorhin habe ich noch geschrieben, dass ich diesen Text ja draußen um 1 Uhr Nachts auf der Party selber geschrieben habe. Doch, habe ich den restlichen Text dann auch dort geschrieben? Den Teil der Rettung und des Feierns? Ich habe doch nicht zwischendurch mein Handy herausgeholt und weitergeschrieben. Gut, vielleicht hätte es ja auch sein können, dass ich den restlichen Text einfach am Tag danach zu Hause geschrieben habe, und ja, das könnte ich jetzt auch behaupten, damit du ein Happy End hast. Und wenn du ein Happy End haben willst, dann solltest du jetzt vielleicht auch aufhören und eben denken, dass es so passiert ist wie gerade beschrieben.

Solltest du doch die Wahrheit hören wollen, dann lies ruhig weiter. In Wahrheit aber habe ich den gesamten Teil „der Rettung“ mir nur ausgedacht. Gerade in diesem Moment sitze ich immer noch draußen und schreibe dir diese Geschichte. Niemand kam, um mich wieder reinzuholen. Niemand kam vorbei um zu checken wie es mir geht. Und der restliche Abend verläuft auch nicht damit, dass ich mit meinen Freunden feiere, dass dieses Kapitel meines Lebens zu Ende ist und ein neues anfängt. Ist das traurig? Auf jeden Fall. Ist es aber die Realität? Ebenso ja. Es ist genau die Realität, die ich vor der Party vorhergesehen habe. Und vielleicht bin ich nur ein elendiger Pessimist und habe mir den Abend selber versaut mit meiner Einstellung. Vielleicht brauche ich einfach professionelle Hilfe, um meine Ängste zu bekämpfen, damit ich endlich mein Leben genießen kann. Doch wenn meine Ängste bedeuten, dass ich dir eine kleine Geschichte schreiben kann, dann ist das doch auch ganz schön. Es tut mir nur leid, dass es keine schöne Geschichte war. Vielleicht solltest du aber nicht traurig sein, sondern es eher als Ansporn nehmen, nicht so wie ich zu sein. Oder vielleicht fühlst du dich auch verstanden, kann ja auch sein. Vielleicht bist du auch jemand, der eher draußen für sich ist auf solchen Partys. In diesem Fall kann ich dir sagen, dass du nicht alleine bist. Es ist vielleicht auch okay, dass wir so sind wie wir sind. Wer hat gesagt, dass das Feiern der einzige Weg ist, um Spaß zu haben. Wir sind eben lieber für uns selbst, und solange wir damit irgendwie zufrieden sind, reicht das doch, oder nicht?

Aber ganz vielleicht versuchen wir uns auch nur einzureden, dass wir so auch zufrieden sein können, nur damit wir uns nicht unseren Problemen stellen müssen. Am Ende bin ich nicht allwissend und bin möglicherweise nur genauso alleine und ängstlich wie du. Wie auch immer es am Ende sein mag. Dieser Abend ist so abgelaufen, und daran kann ich nichts mehr ändern. Ich habe meine Freunde drinnen verlassen, um alleine hier zu sein, oder sie haben mich verlassen und damit gezwungen alleine hier zu sein. Wie auch immer man es sehen möchte, am Ende bin ich alleine hier draußen und schreibe dir diese Worte, das ist das einzige von dem ich mir sicher sein kann. 

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